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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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sein. Dabei war sie die Einzige, die noch halbwegs bei Kräften war, und Marthe-Marie wunderte sich nicht zum ersten Mal über die zähe Natur ihrer Tochter. Seitdem sie bei den Gauklern lebten, war Agnes nicht ein einziges Mal krank gewesen, von ihren zahlreichen schmerzhaften Stürzen einmal abgesehen.
    Vielleicht wären sie, einer nach dem anderen, in aller Stille verhungert, hätte das städtische Spital sie nicht tatsächlich mit Almosen versorgt. Nachdem Diego dort eines Tages vorgesprochen hatte, marschierte er nun mit Quirin jeden Morgen zur Spitalpforte in der Stadtmauer, um dort auf den Knecht zu warten. Meist wurde ihr Korb mit Brot, Hafermus und Latwerge, einem sirupartigen Fruchtsaft, gefüllt, mitunter war auch noch ein Schlag trockenenBrennholzes dabei. Diego und Quirin waren sich inzwischen todfeind, doch hätte man für diesen Gang trotz der kurzen Wegstrecke niemand anderen bestimmen können, so gefährlich war es in diesen Tagen, mit einem Korb voller Lebensmittel unterwegs zu sein.
    Es war indes nicht viel, was die beiden jeden Morgen in den Wohnwagen brachten, und satt wurde davon keiner. Stumm verteilte Marusch die Kostbarkeiten: Hafermus an die Kranken, Löffel für Löffel, dann das Brot und die Latwerge an die Übrigen. Stumm kaute jeder an dieser einzigen Mahlzeit des Tages. Und weitgehend stumm verging auch der Rest des Tages. Außer um ihre Notdurft zu verrichten, verließ Marthe-Marie den Wagen nicht mehr. Beinahe regungslos hockte sie auf ihrem Strohlager und starrte vor sich hin. Ihr Kopf fühlte sich angenehm leer an, nichts drang mehr in sie ein, weder Empfindungen noch Geräusche. Und wenn sie etwas dachte, war es stets dasselbe: Warum bin ich hier?
     
    Marthe-Maries Körper hing kopfüber vom Galgen, die Hände waren am Rücken zusammengebunden, die Stirn schwebte eine Handbreit über dem Boden. Sie wand sich wie eine Schlange, doch aus ihren geöffneten Lippen drang kein Laut. Vor ihr stand eine schmächtige Gestalt, mit einer Teufelsmaske auf den Schultern, und schnitt ihr mit einem Messer die Kleider vom Leib, langsam und genüsslich, bis sie splitternackt war. Vor Kälte färbte sich ihre Haut bläulich. Da streckte die Teufelsgestalt mit höhnischem Lachen die Arme zum Himmel, und wie auf Befehl erhob sich ein Schneesturm. Dichte, schwere Flocken wirbelten um Marthe-Maries Körper, die Schneedecke unter dem Galgen stieg höher und höher, bis erst ihre Stirn, dann ihr Kopf in der weißen Masse verschwanden. Jetzt erst hörte man ihren Schrei, dumpf und wie aus weiter Ferne, drei schwarze Raben kreisten über dem Galgen, die Schneemassen hatten bald ihren Körper bedeckt, bis nur noch das gespannte Seil zu sehen war.
    Als Jonas erwachte, lag seine Decke am Boden; er war schweißnass. Mit jeder Faser seines Körpers spürte er, dass Marthe-Marie in Gefahr war. Vielleicht lag sie längst irgendwo am Straßenrand, erschlagen, erfroren, verhungert. Er hatte sie mit eigenen Augen gesehen, die Leichen der Bettler und Obdachlosen, die in diesem schrecklichen Winter nirgendwo Schutz gefunden hatten, die Leichen der Landfahrer am Straßenrand, die von Wegelagerern erschlagen worden waren, um eines Stücks Brot oder ein paar Pfennigen willen.
    Voller Verzweiflung barg er sein Gesicht in den Händen. Was gäbe er darum, Marthe-Marie noch einmal wieder zu sehen. Ein einziges Mal nur. Nie wieder würde er sie gehen lassen.

36
    Ende Februar setzte endlich Tauwetter ein. Doch das, worauf die Menschen ihre Hoffnung gesetzt hatten, gereichte ihnen gleichfalls zum Verderben: Binnen zweier Tage wurden die Schneemassen zu matschigem Brei, dazu ergossen sich immer wieder kräftige Schauer aus einem schweren, dunklen Himmel. Der Boden vermochte das Wasser nicht mehr aufzunehmen, Bäche und Flüsse traten über die Ufer und überfluteten an vielen Stellen die Landstraßen. Himmel und Erde schienen sich zu vermischen und eins zu werden in einem schmutzigen, nassen Grau.
    Für die Spielleute war an Aufbruch nicht zu denken. Ihre Wiese stand unter Wasser, an manchen Stellen fast kniehoch. Statt ihrer ausgemergelten Maultiere hätte es dreier kräftiger Ochsen bedurft, um die Wagen und Karren aus dem Schlamm zu zerren. Und Leonhard Sonntag, Salome und Lambert kämpften immer noch gegen ihre Fieberanfälle.
    Marusch machte sich ernsthafte Sorgen um ihren Mann. Hohlwangig und abgemagert lag er auf seinem Strohlager, die meiste Zeit mit geschlossenen Augen. Das ist nicht mehr der Prinzipal, den ich ihn

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