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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Freiburg kennen gelernt habe, dachte Marthe-Marie. Wie alt er aussieht, alt und hilflos.
    Auch Marusch wirkte verändert. Zwar waren zu ihrer Erleichterung Lisbeth und Antonia wieder auf den Beinen, doch um ihre Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben, die Haut sah grau aus, ihre kräftigen dunkelroten Locken waren plötzlich fahl und strähnig. Und ihr Blick, der immer so viel Lebensfreude und Energie ausgestrahlt hatte, war müde geworden.
    Wie sie jetzt ihrem Mann mit einem Schwamm die rissigen Lippen befeuchtete, zitterten Maruschs Hände, und in ihren Augen standen Tränen. In diesem Augenblick erwachte Marthe-Marie aus ihrer Lethargie.
    «Er wird wieder gesund», flüsterte sie und erhob sich mühsam, um sich neben ihre Freundin zu setzen. «Ganz bestimmt.»
    Marusch schwieg. Von draußen hörten sie Diegos Stimme, der zusammen mit Quirin und den beiden Artisten Graben um Graben zog, damit das Wasser unter den Wagen abfließen konnte. Kurz darauf steckte er den Kopf zur Tür herein.
    «Könnte eine von euch vielleicht mithelfen, statt wie die Gräfinnen herumzusitzen? Ein wenig Bewegung an der frischen Luft würde euch gut tun.»
    «Geh du», sagte Marthe-Marie. «Wenn er zu sich kommt, rufe ich dich.»
    Marusch nickte und ging hinaus.
    Diego führte inzwischen das Regiment. Ohne ihn, dachte Marthe-Marie manchmal, wäre hier längst alles aus dem Ruder gelaufen. Sie sah hinüber zu Lisbeth und Agnes, die eng aneinander gekuschelt schliefen. Irgendwann würde sie ihrer Tochter von dem Leben bei den Gauklern erzählen, von den guten und denschlimmen Zeiten im Kreise dieser Menschen. Denn dass sie die Gaukler verlassen würde, sobald dieser Winter vorbei war, wusste Marthe-Marie inzwischen.
    In Waldsee kam nach der Schneeschmelze der Alltag der Menschen allmählich wieder in Gang. Die Menschen liefen barfuß, mit geschürztem Rock durch Dreck und Schlamm, Alte und Kranke wurden auf den Rücken genommen. Bald fand wieder regelmäßig Markt statt. Die ersten Bauern und Krämer besuchten mit ihren Waren die Stadt, Fremde wurden eingelassen, die Mühlen und Werkstätten nahmen ihre Arbeit wieder auf.
    Antonia entdeckte als Erste, dass auf der Fahrstraße neben ihrer Wiese wieder schwere zwei- und vierspännige Frachtwagen rollten. Sie und Marthe-Marie errichteten gerade auf einer halbwegs trockenen Stelle das Dreigestänge für den großen Kessel – zum ersten Mal seit langer Zeit würde es wieder eine heiße Suppe für alle geben, wenn auch nur dünne Wassersuppe mit Gras und Löwenzahn.
    «Sieh mal, die Wagen dort», rief das Mädchen. «Dem Himmel sei Dank, wir können aufbrechen.»
    «Erst wenn dein Vater und die anderen wieder gesund sind.»
    Antonia lachte. «Die sind schnell auf den Beinen, wenn ich ihnen sage, dass die Straßen wieder befahrbar sind.»
    Als ob der Himmel ihre Worte unterstreichen wollte, brach in diesem Moment die Sonne durch das hohe Gewölk. Marthe-Marie empfand ihre Strahlen, diese erste milde Wärme der frühen Märzsonne, wie ein kostbares Geschenk. Zwei Tage später spannten sie ein und verließen die Stadt in Richtung Bodensee.
    Einen halben Tagesmarsch weiter, auf einer Anhöhe des Altdorfer Waldes, mussten sie Halt machen, da die Maultiere bereits vollkommen erschöpft waren.
    «Bleiben wir erst mal hier», beschied der Prinzipal, der in eine Decke gehüllt wieder seinen Platz auf dem ersten Wagen eingenommenhatte. «Hier ist es hell und sonnig, und nach Ravensburg ist es nicht mehr allzu weit.»
    Kurz darauf standen die Wagen im kleinen Kreis um eine flackernde Feuerstelle. Kreuz und quer waren Schnüre gespannt, auf denen Decken, Strohsäcke und Kleider zum Trocknen hingen. Die Frauen machten sich auf die Suche nach ersten frischen Kräutern, die Kinder genossen es, endlich wieder im Freien toben zu können, und die Männer taten schlichtweg nichts: Mit ausgestreckten Gliedern saßen oder lagen sie auf den Wagen und streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen.
    Als es gegen Abend ging, rief Marusch die anderen mit ihrem Kutscherhorn zum Essen: Eine Kräuterbrühe dampfte im Kessel, mit wilden Beeren als Einlage, die die Vögel halb vertrocknet an den Sträuchern übrig gelassen hatten. Doch niemand mochte über dieses magere Essen murren, denn die Stimmung der Gaukler war mit diesen ersten Sonnentagen wie ausgewechselt. Die warme Jahreszeit lag vor ihnen, alles konnte nur besser werden. Einzig Marthe-Marie vermochte diese freudige Zuversicht nicht zu teilen. Den ganzen

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