Die Tochter der Hexe
Nachmittag schon hatte eine Unruhe sie ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr war, als ob ein Gewitter in der Luft liege. Doch der blassblaue Märzhimmel versprach eine milde, trockene Nacht. Wahrscheinlich bin ich vollkommen überspannt, dachte sie und behielt ihre Empfindung für sich.
Die Kinder erschienen als Letzte zum Essen. Sie wirkten verängstigt, und Marthe-Marie sah sofort, dass Agnes fehlte. Da wusste sie, dass ihre Vorahnung sie nicht getrogen hatte.
«Wo ist Agnes?» Ihre Stimme zitterte.
«Wir haben sie überall gesucht.» Clara sah zu Boden. Es war ihre Aufgabe, auf die beiden Jüngsten zu achten.
Marusch packte ihre Tochter hart am Arm.
«Warum ist sie nicht bei dir?»
Clara begann zu weinen. «Wir haben Verstecken gespielt, und dann war sie auf einmal weg.»
Marusch holte aus und schlug ihr ins Gesicht.
«Lass sie.» Marthe-Maries Stimme war nur noch ein Flüstern. Ihr war, als habe eine unsichtbare Macht ihr alle Kraft aus den Gliedern gezogen. Diego war mit schnellen Schritten bei ihr, als sie schwankte und zu Boden sank.
«Beruhige dich.» Er strich ihr übers Haar. «Wir gehen sie suchen. Noch ist es hell. Und du bleibst hier, falls sie zurückkommt.»
Sie durchkämmten den Wald in alle Richtungen, schritten die Landstraße ab, ließen immer wieder das Horn ertönen, doch als sie schließlich die Hand vor den Augen nicht mehr sehen konnten, brachen sie die Suche ab.
Marusch brachte ihre Freundin in den Wohnwagen.
«Sie wird sich verlaufen haben. Bestimmt hat sie einen Unterschlupf gefunden. Die Nacht ist ohne Frost, sie wird nicht allzu sehr frieren. Du wirst sehen, morgen früh finden wir sie.»
«Sie wird sich zu Tode fürchten.»
«Nein. Deine Agnes ist eine richtige Gauklertochter. Eine Nacht im Wald hält sie durch.»
Jetzt erst begann Marthe-Marie zu weinen. Ihr ganzer Körper bebte, sie kam gegen das heftige Zittern nicht an, bis Diego sie schließlich festhielt und Marusch ihr einen Trank aus Ambrosius’ Apotheke einflößte. Danach lag sie still da, mit flachem Atem, nur hin und wieder drang ein unterdrücktes Stöhnen über ihre Lippen. Im Dunkel des Wagens tauchte Agnes’ lachendes, vorwitziges Gesicht auf, dann wieder sah sie sie im Unterholz liegen, mit gebrochenem Bein, zerschlagener Stirn, in den Fängen eines Raubtiers.
Sie ließen die ganze Nacht das Feuer brennen. Auch Diego und Marusch blieben wach. Immer wieder gingen sie hinaus, um Holz nachzulegen oder etwas abseits des Lagers in das Kutscherhorn zu blasen.
Irgendwann in der Nacht erschien Salome und legte ihre Hand auf Marthe-Maries eiskalte Stirn.
«Ich habe eben von Agnes geträumt. Sie ist wohlauf.»
Marthe-Marie schreckte hoch. «Wo ist sie?»
«Das konnte ich nicht erkennen. Aber sie ist nicht allein. Nun versuch zu schlafen, sie wird bald wieder bei dir sein.»
Bei Sonnenaufgang setzten sie die Suche fort. Diesmal ließ es sich Marthe-Marie nicht nehmen, mitzukommen. Sie schwärmten sternförmig in alle Himmelsrichtungen aus. Bald hatte Marthe-Marie einen schmalen Pfad entdeckt, der zu einem Weiher im Wald führte. Sofort packte sie die Angst, Agnes könne ertrunken sein. Sie sah die glatte dunkelbraune Wasseroberfläche vor sich, und wieder ergriff sie ein heftiges Schwindelgefühl.
Ein Rascheln schreckte sie auf. Nur wenige Schritte vor ihr flatterte ein Auerhahn aus dem Unterholz. Und dann sah sie die Gestalt zwischen den Bäumen stehen.
Er war es, auferstanden von den Toten, aus ihren Albträumen ins Leben getreten. Hatte sie eben geschrien? Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus, dann zog eine unsichtbare Kraft sie vorwärts. Wie unter Zwang setzte sie Schritt vor Schritt, immer dieses bleiche, verzerrte Gesicht vor Augen, das wie ein Totenschädel vor ihr aus dem Laubwerk schimmerte. Ganz nah war sie herangekommen, da hörte sie das Flüstern, erkannte, wie sich die vernarbten Lippen bewegten und Worte formten.
«Sie ist in meiner Gewalt», flüsterte die Stimme. «Hol sie dir im Steinbruch», und: «Kommst du nicht allein, bringe ich sie um.»
Marthe-Marie schloss die Augen. Dann war alles vorbei. Sie hörte Zweige knacken, sah kurz darauf einen Schatten die Böschung zur Landstraße hinaufhuschen, eine Hand legt sich ihr fest auf die Schulter. Mit einem erstickten Schrei fuhr sie herum.
«Himmel, was ist mit dir?» Marusch sah sie besorgt an.
«Es ist nichts», flüsterte sie. «Ich bin nur erschrocken. Ein Auerhahn. Hab ihn wohl aufgescheucht.»
Ihre Augen
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