Die Tochter der Hexe
wurde schwarz vor Augen, und sie fiel in eine endlose finstere Schlucht.
Als sie die Augen aufschlug, spürte sie Agnes’ Lockenkopf sich an ihre Wangen schmiegen.
«Agnes!» Sie zog den Umhang weg, mit dem sie zugedeckt war, und umschlang ihre Tochter. So hatte sie es also überstanden. Sie war fast erstaunt, wie leicht der Tod vonstatten gegangen war.
Agnes begann zu weinen. «Der Mann war so böse.»
Erst allmählich verstand Marthe-Marie, dass sie immer noch in der Welt der Lebenden war, und das Grauen überkam sie von neuem. «Hat er dir weh getan?»
«Nein, aber er hat mir nichts zu essen und zu trinken gegeben und die Füße zusammengebunden, damit ich nicht weglaufen konnte.»
«Meine Kleine.» Sie lachte und weinte gleichzeitig. Da erst entdeckte sie ein paar Schritte weiter Marusch, Sonntag, Diego, Lambert und Quirin. In ihren Augen las sie einen stummen Ausdruck des Entsetzens.
«Wo ist er?», stammelte sie, als Marusch sich neben sie auf den Boden kniete. Ihr Kopf dröhnte.
«Im Steinbruch. Gefesselt und geknebelt. Du musst keine Angst mehr haben. Kannst du aufstehen, oder sollen wir eine Trage holen?»
«Nein, es geht schon wieder.»
Sie erhob sich mühsam und griff nach Agnes’ kleiner Hand. Wie warm sie sich anfühlte. Wie lebendig.
«Was ist geschehen?» Sie sah zu Diego. Sein Gesicht war leichenblass. An seiner Stelle antwortete Marusch.
«Nachdem du dich so seltsam benommen hast, bin ich dir heimlich hinterhergelaufen, und dann hab ich dich mit diesem Dreckskerl im Steinbruch gesehen. Ich bin sofort zurück, um Hilfe zu holen, und Gott sei Dank habe ich Diego und die anderen gleich gefunden. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Wie eine Furie ist Diego über den Kerl hergefallen, die anderen hinterdrein. Dabei hast du dann wohl auch einen Schlag gegen den Kopf abbekommen.»
«Hat er mich –?» Sie biss sich auf die Lippen.
Marusch lächelte. «Mach dir darum keine Sorgen.»
Marthe-Marie trat zu Diego und den anderen Männern, um sich zu bedanken. Aber sie brachte kein Wort heraus und sah nur schweigend von einem zum andern. In diesem Moment der Stille war nichts als der Wind zu hören, der leise in den Blättern rauschte. Sie schaute diese zerlumpten, ausgemergelten Menschen an, und sie spürte ihre Sorge und Liebe wie die wärmenden Strahlen der Sonne.
Ein heiseres Stöhnen drang aus dem Steinbruch, ein Ächzen, das kaum von einem menschlichen Wesen herrühren konnte. Ihr schauderte.
«Wir müssen ihn in die nächste Stadt vor Gericht bringen.»
«Nein.» Der Prinzipal räusperte sich. «Wir haben beschlossen, ihn zu töten.»
«Das könnt ihr nicht machen. Das hieße, Unrecht mit Unrecht zu vergelten.»
«Ihn in die Stadt bringen hieße, Unrecht mit Unrecht zu vergelten. Oder glaubst du, die Obrigkeit würde in solch einem Fall Recht sprechen? Hast du vergessen, wer dieser Wulfhart ist? Er istder Sohn des Henkers deiner Mutter und inzwischen einer der berühmten Biberacher Scharfrichter. Sie würden ihn sofort freilassen, und Agnes und du ihr würdet niemals Ruhe finden. Womöglich würden dich sogar die Schergen holen und nach Freiburg ausliefern. Nein, Marthe-Marie, es gibt keinen anderen Weg, als das Schwein endgültig von dieser Erde verschwinden zu lassen. Soll seine Seele für ewig in der Hölle schmoren.»
Sie öffnete den Mund zum Protest, aber Marusch sagte schnell: «Denk daran, was er deinem Kind antun wollte!» Marthe-Marie sah von einem zum anderen und wusste, dass niemand die Gaukler von ihrem Entschluss abbringen konnte: Wulfhart würde sterben.
«Marusch bringt dich und Agnes ins Lager zurück», fuhr der Prinzipal fort. «Sagt Valentin, Severin und den Musikanten, sie sollen herkommen. Wir wollen besprechen, was zu tun ist. Ihr Frauen bleibt mit den Kindern im Lager. Wartet, da ist noch etwas. Wir haben den Kerl ein wenig zum Reden gebracht. Ganz offensichtlich war er auch hinter einem Wasserschlauch voll Gold her, dem Hexengold, wie er es nannte. Dieser Hartmann Siferlin hat es ihm als Lohn versprochen und wohl angedeutet, dass sich dieser Schatz in einem Haus befände, in dem du deine Wurzeln hast. Kannst du das erklären?»
«Dann seid ihr jetzt auch hinter dem Gold her?», entfuhr es Marthe-Marie. Doch sofort bereute sie ihre Bemerkung, denn Sonntag schüttelte nur müde den Kopf.
«Nein. Aber du hast Marusch einmal erzählt, dass deine Mutter nicht ohne Vermögen war und dass Siferlin, nachdem er sie auf den Scheiterhaufen gebracht hatte,
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