Die Tochter der Hexe
mageren Ärmchen unterstrichen jeden Satz mit aufgeregten Gesten, das kleine Gesicht glühte vor Stolz. Sie schickte ein stilles Dankgebet zu Gott.
Am späten Nachmittag kehrten die Männer zurück, erschöpft und schmutzig, wie Landsknechte nach einer schweren Schlacht. Obwohl es der Jahreszeit entsprechend recht kühl war, kamen sie mit bloßem Oberkörper, ihre Hemden und Röcke trugen sie in der Hand.
Wie mager sie allesamt waren, dachte Marthe-Marie. Sie schob Agnes vorsichtig von ihrem Schoß und erhob sich. Und an den Hemden klebte das Blut ihres Feindes.
«Legt die Sachen auf einen Haufen», sagte sie. «Ich werde sie morgen früh im Weiher waschen.»
Sonntag zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe, dann nickte er. «Gibt es was zu essen?»
Marusch wies auf den Kessel. «Frisch gepflückten Löwenzahn und Sauerampfer. Das letzte Hafermus haben die Kinder gegessen.»
Wortlos traten die Männer an den Kessel und zogen jeder eineHand voll Blätter heraus. Marthe-Marie sah, dass ihre Hände sauber waren. Sie mussten sie unterwegs gewaschen haben.
Da lief Agnes zu Diego. «Stimmt es, dass du mich und Mama gerettet hast?»
Diego hob sie in die Luft. «Nein, das war der liebe Gott. Er hat uns gesagt, was wir tun sollen.» Er warf Marthe-Marie einen verstohlenen Blick zu.
«Ich denke», sagte der Prinzipal, «wir sollten ein paar Tage hier bleiben. Was meint ihr?»
Niemand hatte etwas einzuwenden.
«Wir sind hier weit genug entfernt von jedem Försterhaus», fuhr er fort, «um uns ein wenig bei den Schätzen der Natur zu bedienen. Valentin und Severin sollen, bevor es dunkel wird, ihre Fallen aufstellen. Mit etwas Glück essen wir morgen Hasenbraten.»
In dieser Nacht schlief Marthe-Marie zum ersten Mal seit ihrer gemeinsamen Nacht bei Diego im Requisitenwagen. Wie zwei im Nebel Verirrte hielten sie sich an der Hand. Als Marthe-Marie im Morgengrauen erwachte, waren ihre Finger noch immer ineinander verschlungen. Sie hob den Kopf. Diego lag mit offenen Augen auf dem Rücken.
«Ich werde euch bald verlassen», flüsterte sie.
«Ich weiß. Ich hatte mir immer eingeredet, dass wir zusammengehören, du und ich. Aber im Grunde weiß ich längst, dass ich mich damit nur selbst belogen habe.»
Marthe-Marie wusste nichts darauf zu antworten.
An diesem Morgen hatte Agnes hohes Fieber. Verschwitzt und mit rotem Gesicht lag sie auf ihrem Strohsack im Wohnwagen und phantasierte. Marthe-Marie war völlig außer sich vor Sorge.
«Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist», versuchte Marusch sie zu beruhigen. «Sie ist ausgehungert und erschöpft wie wir alle, und dann dieser Schrecken gestern. Irgendwo musste das ja Spurenhinterlassen.» Sie reichte ihr ein feuchtes Tuch. «Salome und Anna sind schon unterwegs, um Kräuter zu sammeln.»
«Wie soll das nur weitergehen?», fragte Marthe-Marie mit erstickter Stimme. «Die Kinder haben sich seit Monaten nicht mehr satt gegessen. Sie sind nur noch Haut und Knochen.»
«Bisher ist es immer weitergegangen. Morgen oder übermorgen werden wir aufbrechen, und Ravensburg liegt nur eine Tagesreise von hier. Dort werde ich bei den Schwestern von St. Michael anklopfen. Irgendwer wird sich schon an mich erinnern und sich barmherzig erweisen. Ich bin mir sicher, dass zumindest die Kinder ein paar Tage lang zu essen bekommen, bis sie wieder bei Kräften sind. Und vielleicht dürfen wir dort spielen, im Frühjahr sind die ersten großen Märkte, und Ostern steht vor der Tür.»
Diego trat ein. «Wie geht es Agnes?»
«Sie glüht wie ein Ofen.» Marthe-Marie legte dem Kind ein frisches Tuch auf die Stirn.
«Hör mal.» Diego räusperte sich. «Das mit dem Gold geht mir nicht aus dem Kopf. Nein, warte, lass mich ausreden – wenn es diesen Schatz tatsächlich gibt, warum sollten wir ihn wildfremden Menschen überlassen, die ihn vielleicht eines Tages zufällig finden?»
«Habt ihr mal daran gedacht», unterbrach ihn Marusch, «dass dieser Siferlin den Schatz nur erfunden haben könnte? Um den Henkerssohn auf Marthe-Marie anzusetzen? Dass es vielleicht gar keinen Schlauch voller Gold gibt?»
«Ich weiß nicht.» Marthe-Marie streichelte Agnes’ Hand. «Vielleicht ist doch ein Funke Wahrheit dabei. Warum sonst war die Rede von einem Schlauch und nicht von einer Kiste oder einem Beutel Gold? Und meine Mutter besaß ja tatsächlich einen kunstvoll gearbeiteten Wasserschlauch aus Leder, der ihr sehr viel bedeutete. Außerdem: Siferlin hat das gesamte Erbe unterschlagen,
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