Die Tochter der Hexe
wie er auch schon Jahre zuvor andere Leute betrogen undbestohlen hat. Gut vorstellbar, dass seine Beute an irgendeinem geheimen Ort versteckt liegt. Aber was soll das alles?» In ihre Augen trat ein Anflug von Zorn. «Ich habe doch gesagt, ich will davon nichts wissen, es soll endlich vorbei sein. Das ist schmutziges Gold, zusammengerafft von allen möglichen unglücklichen Menschen, denn meine Mutter allein war nicht so reich. Ich will es nicht haben.»
Diego unterdrückte ein Grinsen. «Du vielleicht nicht. Aber ich denke, uns anderen wäre es völlig einerlei, woher das Gold stammt, wir sind da nicht so ehrenwert. Überlass den Schatz uns; wir wären für die nächste Zeit alle Sorgen los.»
«Nein!»
Er wurde ernst. «Hast du dir einmal überlegt, dass Caspar womöglich noch leben könnte, hätten wir damals das Geld für einen Bader oder Arzt gehabt? Dass nicht ständig einer von uns krank wäre, wenn wir genug zu essen hätten? Dass wir mit diesem Gold neue Kostüme und Requisiten kaufen könnten und endlich wieder eine ansehnliche Truppe wären, die vom Magistrat ein Gastspiel angeboten bekäme, statt mit Hunden und Bütteln aus der Stadt gejagt zu werden? Wenn du dieses Geld, das dir zusteht, nicht annehmen kannst, dann überlass es wenigstens uns. Und mit uns meine ich uns alle. Dass mir persönlich nichts an Reichtümern liegt, solltest du wissen.»
Marthe-Marie spürte Beschämung in sich aufsteigen. Wie hatte sie vergessen können, in welcher Schuld sie bei diesen Menschen stand. «Du hast Recht. Es war wohl ziemlich dumm, was ich eben dahergeredet habe.»
«Dann verrätst du mir also, wo dein Vater in Freiburg gewohnt hat?»
Sie nickte.
«Gut.» Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. «Sobald wir in Ravensburg sind, überlässt mir Sonntag den Grauschimmel, undich reite nach Freiburg. Wenn alles gut geht und das Wetter mitspielt, bin ich rechtzeitig vor Ostern zurück.»
«Dann ist das also längst beschlossene Sache?» Marthe-Marie konnte den säuerlichen Unterton in ihrer Stimme kaum vermeiden.
Marusch gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. «Hör auf mit diesen Empfindlichkeiten. In dem Schlamassel, in dem wir stecken, sollten wir uns nicht um solchen Mückenschiss streiten.»
Von draußen hörten sie Freudenschreie. Marusch steckte den Kopf durch das kleine Fenster des Wohnwagens, dann lachte sie.
«Na also. Ein junger Fuchs und ein Baummarder sind uns in die Falle gegangen. Wenn das kein gutes Omen ist.»
«Nicht gerade viel für zweiundzwanzig hungrige Mägen», murmelte Marthe-Marie.
«Besser als Löwenzahnblätter. Und für Agnes gibt das eine kräftige Brühe. Du wirst sehen, morgen ist sie wieder gesund.»
Zwei Tage später waren sie wieder unterwegs. Den Pferden und Maultieren hatte die Rast auf der Waldwiese mit ihrem frischen Gras gut getan. Unermüdlich zogen sie ihre Last über den holprigen Fahrweg. In den Dörfern saßen Frauen und Kinder am Straßenrand in der milden Frühlingssonne und flochten für Palmsonntag Buchskränze und bunte Bänder um Besen und Stangen. Freundlich winkten sie den Fahrenden zu.
Schon kurz nach Mittag erreichten sie das sonnenüberstrahlte Schussental. Hoch über dem Tal erhob sich zu ihrer Linken weithin sichtbar die mächtige Benediktinerabtei Weingarten. Sie nannte eine berühmte Reliquie vom Blut Christi ihr Eigen, zu deren Verehrung jedes Jahr an Christi Himmelfahrt Tausende von Reitern aus dem ganzen Land zusammenströmten.
Marusch, die neben Marthe-Marie auf dem Kutschbock saß, breitete die Arme aus und sog hörbar die Luft ein.
«Riechst du den Frühling? Es ist, als ob einem eine enge Fessel von der Brust genommen wird. Herrlich!»
Marthe-Marie hätte ihre Freude gern geteilt, aber der Gedanke, dass Diego morgen nach Freiburg reiten würde, an jenen Ort, der zur Quelle ihres Unglücks geworden war, belastete sie. Sie hatte geglaubt, nach Wulfharts Tod mit allem, was sie in den letzten drei Jahren wie ein Fluch verfolgt hatte, abschließen zu können. Doch das war ein Irrtum. Mehr denn je fühlte sie sich heimatlos, denn nun war der Zeitpunkt gekommen, wo sie um ihrer Tochter willen die Gaukler verlassen wollte. Und sie hatte keinerlei Vorstellung davon, wohin es sie verschlagen würde. Im nächsten Moment schalt sie sich eine Närrin: Agnes war auf dem Wege der Besserung, und nur das zählte.
Nachdem sie den Flecken Altdorf, der unterhalb des Klosters lag, hinter sich gelassen hatten, sahen sie schon bald die
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