Die Tochter der Hexe
das gesamte Erbe unterschlagen hat. Es ist dein Erbe, von dem hier die Rede ist, Siferlin scheint alles, was er ergaunert hat, irgendwo gehortet und versteckt zu haben. Was hat das also mit deinen Wurzeln auf sich?»
«Ich weiß es nicht.» In ihrem Kopf geriet alles durcheinander. «Es muss mit meinem leiblichen Vater zusammenhängen – vielleichtist das Haus gemeint, in dem ich gezeugt wurde, in Freiburg.» Sie begann plötzlich zu weinen. «Ich will damit nichts zu tun haben, das ist doch alles vorbei.»
«Komm.» Marusch legte den Arm um ihre Schulter. «Gehen wir.»
Doch als sie die Fahrstraße erreicht hatten, blieb Marthe-Marie stehen. «Ich muss ihn noch einmal sehen.»
«Das ist nicht dein Ernst.»
«Geh du mit Agnes zurück. Bitte.»
Marusch sah sie besorgt an. «Es wird schmerzhaft für dich sein.»
«Trotzdem.»
Als sie sich dem Steinbruch näherte, hörte sie ein jämmerliches Wimmern. Sie trat hinter die Felsen und sah den gefesselten Wulfhart auf dem Boden kauern, mit dem Rücken zu ihr und nackt bis auf sein Hemd. Fast ratlos standen die Männer um ihn herum. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, während sie näher trat. Wulfhart hob den Kopf und sah sie verächtlich an.
Das Herz schlug ihr bis zum Halse, doch ihre Stimme war überraschend fest, als sie sagte: «Meine Mutter war keine Hexe. Doch in dir steckt der Teufel.»
«Du dreckiges Satansweib.» In hohem Bogen spuckte er aus.
Das war der Augenblick, in dem die Tatenlosigkeit der Männer in ungebändigte Wut umschlug. Marthe-Marie hätte später nicht sagen können, wer angefangen hatte: Irgendwer trat, irgendwer schlug auf den Gefesselten ein, ein anderer zog ihn an den Haaren in die Höhe. Sie sah nur noch hassverzerrte Gesichter, hörte die dumpfen Schläge von Stöcken, dazwischen gellende Schreie, ein Messer blitzte auf, Blut schoss aus der Stelle, wo sich Wulfharts linkes Ohr befunden hatte, dann stak die Klinge bis zum Schaft in seiner Schulter, im nächsten Moment im Bauch. Alles Unrecht, das die Männer in den letzten Jahren erfahren hatten,schien sich in diesem blindwütigen Schlachtfest, diesem aberwitzigen Blutrausch zu entladen. Wie zäh Wulfhart war, wie er sich wehrte und wand gleich einem Fisch an der Angel. Sein Hemd war längst nur noch ein blutgetränkter Fetzen, Nase und Augen waren zerschlagen, als ihm plötzlich eine schleimige rote Masse aus dem aufgerissenen Mund quoll und seine Schreie in gurgelnden Lauten erstickten. Immer weiter stachen und prügelten die Männer auf ihn ein, auf diesen erbärmlichen Körper, aus dem das Leben nicht weichen wollte.
Entsetzt taumelte Marthe-Marie zurück und sank zu Boden, Hob nicht einmal den Kopf, als es um sie herum still wurde.
«Es ist vorbei», hörte sie neben sich Diego flüstern. Sie stieß ihn weg und sprang auf.
«Was seid ihr für Bestien!»
Dann stolperte sie davon, mitten durch das Strauchwerk, die Böschung hinauf auf die Fahrstraße. Nur fort von diesem Grauen, zu Agnes wollte sie und rannte, so schnell sie konnte.
37
Zum Erstaunen aller schien Agnes keinen Schaden genommen zu haben. Vielleicht war das Kind ja durch sein Leben bei den Gauklern an die seltsamsten Situationen gewöhnt und hatte alles nur für ein Theaterspiel genommen. Jedenfalls plapperte und erzählte Agnes an diesem Nachmittag ununterbrochen von dem ‹hässlichen, bösen Mann›, der sie beim Versteckspiel entführt, durch den Wald geschleppt und an einen verzauberten Ort mit riesigen Steinen und Höhlen gebracht hatte.
Sie saß, umringt von den anderen Kindern, und Frauen, am Feuer, in den Schoß ihrer Mutter geschmiegt, und genoss sichtlichihre Rolle als Geschichtenerzählerin. Wieder und wieder musste sie beschreiben, wie grauslich der Mann ausgesehen hatte mit seiner Narbe auf der Oberlippe und den kleinen roten Augen, wie grob er gewesen war, als er sie vor einer Höhle einfach zu Boden gestoßen und ihre Beine gefesselt hatte. In ihren Erinnerungen wurde der schmächtige Wulfhart zu einem Riesen mit hinkendem Bocksbein und einer Stimme wie Donner. Doch niemals habe sie ein einziges Mal geweint, beteuerte sie ein ums andere Mal.
Marthe-Marie konnte Agnes’ lebhafte Schilderungen zunächst kaum ertragen. Dann aber merkte sie, wie sich das Grauen, das sich in ihr festgefressen hatte wie ein Geschwür, langsam löste und einem ganz anderen Gefühl wich: dem Gefühl von Erleichterung und Hoffnung. In ihrem Arm lag ihr Kind, wohlbehalten und voller Lebensfreude, die
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