Die Tochter der Hexe
und diesem Erzschelm Siferlin niemand wissen konnte, dass Catharina Stadellmenin eine Tochter hatte. Doch dann tauchte dieser Unbekannte auf, um die vermeintliche Hexentochter zu töten. Gütiger Gott im Himmel, im ersten Moment hatte ich ernsthaft gedacht, Siferlin sei von den Toten auferstanden.»
«Marthe-Marie glaubt, Siferlin sei niemals hingerichtet worden.»
«Das ist Unsinn. Ich selbst war Zeuge, wie der Henker ihn aufs Rad geflochten hat. Wie dem auch sei, wir beide haben alles getan, um sie außer Gefahr zu bringen. Wer dieser teuflische Unbekannte war, werden wir wohl nie erfahren, aber dank deines beherzten Eingreifens ist er jetzt tot. Das sollte dir genügen, mein Sohn. Und du solltest die Mangoltin vergessen.»
Er sah ihn ernst an, aber dann wurde sein Blick milder.
«Übrigens habe ich eine freudige Nachricht für dich: Du kannst nach den Sommerferien als Schulmeister in der Lateinschule anfangen.»
16
Marthe-Marie atmete auf. Bislang war alles gut gegangen bei ihrem ersten Auftritt. Zwar war bei dem Kunststück mit den Eierbechern Diego das Küken entwischt und auf Nimmerwiedersehen in der Zuschauermenge verschwunden, und einmal hatte sie sich in der ersten Aufregung heftig verrechnet, doch bis auf Diego schien das niemand bemerkt zu haben. Jetzt allerdings stand der entscheidende Moment bevor: die Verwandlung. Hier musste jeder Handgriff sitzen, alle Beteiligten mussten sich blitzschnell aufeinander abstimmen.
Ihr Herz klopfte schneller, als Diego dem Publikum verkündete, nun folge eine Sensation, die ihm erst nach jahrelanger Lehrzeit bei den berühmtesten Meistern der weißen Magie gelungen sei: die Verwandlung des Rechenkünstlers Doctor Adam Ries in eine Frau. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Quirin, der unterhalb der Bühne mit seinen Körnchen und Pülverchen in einem Bretterverschlagkauerte. Zähneknirschend hatte er eingewilligt, mit seinen Feuerkünsten zu der Verwandlung beizutragen, und auch jetzt war ihm der Unmut über diese Handlangertätigkeit deutlich anzusehen.
Die Zuschauer sperrten Mund und Augen auf, als Diego vor den Rechenkünstler trat, mit beiden Armen seinen Umhang hochriss und im selben Moment zischend eine dichte Rauchwolke aufstieg. Nur wenige Augenblicke später verzog sich der Qualm, Diego trat mit ergeben gesenktem Kopf zur Seite, und auf der Bühne stand eine wunderschöne Frau in engem dunkelblauen Seidengewand, mit roten Lippen und strahlenden Augen.
Marthe-Marie nahm den aufbrandenden Applaus und die Begeisterungsrufe mit gemischten Gefühlen entgegen. Natürlich war sie stolz darauf, dass sie die gewaltige Hürde ihres Auftritts mit Bravour gemeistert hatte und damit nun wohl endgültig zu Sonntags Truppe gehörte. Aber sie musste doch gegen die Empfindung ankämpfen, etwas Unehrenhaftes zu tun. Was Jonas wohl denken würde, wenn er sie hier oben auf der Bühne sehen könnte? Sie hatte diesen Menschen, die hier vor dem Haslacher Rathaus standen, etwas vorgegaukelt, hatte bloßen Schein für Wirklichkeit ausgegeben, um den Menschen Geld aus der Börse zu ziehen. Ihr fiel das Gespräch ein, das sie vor einigen Tagen mit Diego geführt hatte. Auf ihre Frage, warum die Spielleute eigentlich zum Stand der Unehrlichen gehörten, hatte er ihr erklärt: «Es gibt mehrere Antworten. Ein Ratsherr oder Pfaffe würde dir sagen, dass wir Gaukler uns für Geld zu Eigen geben, uns also selbst verkaufen wie jeder gemeine unfreie Knecht. Eine Dienstmagd hingegen würde schimpfen, dass wir klauen wie die Raben und weder Sitte noch Anstand kennen. Der wahre Grund aber ist, dass wir, wie die Schäfer oder Henker und Abdecker, vom städtischen Wehr- und Wachdienst befreit sind. Du kennst ja den Spruch: ‹Schäfer, Spielleut und Schinder sind Geschwisterkinder.› Und bei den Deutschenist halt alles unehrlich, was nicht im Heer- oder Bürgerbann mitkämpft.»
Obwohl der Beifall nicht enden wollte, zog sich Marthe-Marie irgendwann mit huldvollem Gruß hinter den Vorhang zurück, wo ihre Freundin mit Doktorhut und Talar im Arm auf sie wartete. Neben ihr stand Sonntag mit undurchdringlicher Miene.
«Du warst großartig.» Marusch ließ die Kleidungsstücke einfach auf den Boden fallen und umarmte Marthe-Marie, dass ihr die Luft wegblieb. «Als ob du dein Leben lang nichts anderes getan hättest, als auf der Bühne zu stehen. Das müssen wir feiern.»
«Ich weiß nicht recht – mir ist, als wäre ich gar nicht mehr Marthe-Marie.»
«Daran wirst du dich gewöhnen.»
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