Die Tochter der Hexe
diesen Gauklern.
15
Er war ein Narr. Wie hatte er so einfältig sein können zu glauben, er könne sie vergessen. Aufgebracht zerriss er die Seiten im Tagebuch, die er gerade beschrieben hatte, und lief in seiner Kammer hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Vor dem Spiegel über dem Waschtisch blieb er stehen. Sein Gesicht war bleich, unter den Augen lagen tiefe Schatten.
Seit Tagen hatte er keinen Schlaf mehr gefunden. Wütend schlug sich Jonas gegen die Stirn. «Hör endlich auf, an sie zu denken.»
Es war vergeblich. Er konnte seine Nase in die Bücher stecken, mit Magdalena am Kachelofen sitzen oder hinaus auf die Felder reiten: Immer schob sich Marthe-Maries Gesicht vor seine Augen. Ihre fein geschnittenen Züge im warmen Schein des Lagerfeuers, ihr atemloses, stolzes Lächeln nach dem Wettreiten, ihre verzweifelten Tränen, als sie ihm entgegenschleuderte, sie sei eine Hexentochter und wolle ihn nie wieder sehen. Warum nur hatte sie kein Vertrauen zu ihm? Und wenn sie die Tochter einer leibhaftigen Hexe war – was kümmerte ihn das?
Er musste mit Textor sprechen. Entschlossen zog er seine Weste über das Hemd, strich sich die Haare aus der Stirn und ging die Stiege hinunter zum Bücherkabinett, wo der Alte die Nachmittagsstunden zu verbringen pflegte.
Er klopfte an die Tür und wartete, bis der Hausherr ihn hereinrief.
«Jonas! Komm und setz dich zu mir.» Textor deutete auf die Bank neben sich. «Du siehst blass aus. Ist dir nicht wohl? Du solltest dich ein wenig schonen, nach allem, was du in letzter Zeit erlebt hast.» Er sah Jonas prüfend an. «Oder hattest du Streit mit Magdalena?»
«Nein, das ist es nicht.» Jonas spürte, wie ihn der Mut verließ.
«Nur zu, du hast doch etwas auf dem Herzen.»
«Nun ja, es gibt da etwas, das ich wissen muss. Bitte, glaubt nicht, dass es mir an Respekt vor Euch mangelt, ich weiß, wie viel Euch Anstand und Gerechtigkeit bedeuten.» Er holte tief Luft. «Aber ich muss es wissen: Was hattet Ihr mit dem Tod von Catharina Stadellmenin zu tun?»
Textor sah verwundert auf.
«Mit wem hast du darüber gesprochen?»
«Mit Marthe-Marie Mangoltin. Ich weiß nun, dass sie die Tochter der Stadellmenin ist. Sie hat mir beim Abschied gesagt, Ihr hättet zusammen mit einem gewissen Hartmann Siferlin ihre Mutter auf den Scheiterhaufen gebracht.»
«Und du glaubst ihr das?»
«Um offen zu sein: Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.»
«Warum ist dir die Mangoltin so wichtig?»
«Weil – weil sie ein wunderbarer Mensch ist. Sie ist klug, dabei warmherzig und eine fürsorgliche Mutter. Sie lebt ohne Schuld und wird doch gejagt und verfolgt wie eine Verbrecherin. Völlig verzweifelt ist sie und bezeichnet sich nun selbst schon als Hexentochter. War ihre Mutter denn wirklich eine Hexe? Habt Ihr sie deshalb zum Tode verurteilt?»
Jonas sah, wie Textors Gesicht sich vor Enttäuschung schmerzlich verzog.
«Eigentlich solltest du mich besser kennen, mein Junge. Aber gut, ich will dir darlegen, wie die Dinge wirklich waren.» Er räusperte sich. «Wie jeder vernünftige Mensch weiß ich um die Verführbarkeit des Menschen durch das Böse und erachte deshalb drakonische Strafen bei Schadenszauber und Schwarzmagie für unerlässlich. Doch was solche Geschichten wie Teufelsbuhlschaft und nächtliche Sabbate betrifft, halte ich es inzwischen mit denjenigen Gelehrten, die das kritisch sehen: Wer allen Ernstes glaubt, nächtens mit dem gesalbten Stecken auszufahren oder sich mitdem Teufel zu vermählen und mit solchen Hirngespinsten auch noch seine Mitmenschen in den Strudel der Verfolgungen zieht, ist nichts anderes als in der Seele krank und sollte auch als Kranker behandelt werden. Schon vor vierzig Jahren hat Johann Weyer, immerhin ein berühmter Hofarzt, die Hexenverbrennungen als Blutbad der Unschuldigen bezeichnet und Phänomene wie Buhlschaft und Teufelspakt als reine Phantastereien.»
«Aber die Stadellmenin und die anderen Frauen haben doch alles zugegeben!»
«Nach wiederholter Tortur, Jonas. Beurteile selbst: Welchen Wert hat ein Geständnis, wenn die Beschuldigte vor Schmerzen halb irrsinnig ist? Sagt ein Mensch die Wahrheit, wenn man ihm die Arme aus den Gelenken reißt, oder sagt er nicht vielmehr alles, was seine Richter hören wollen? Die peinliche Befragung ist eine Aufforderung, sich jedweder Delikte schuldig zu bekennen, nur um den Qualen ein Ende zu bereiten. Catharina Stadellmenin mag so viel oder so wenig Schuld auf sich geladen haben wie
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