Die Tochter der Hexe
dem Scherdegen schabten sie mühselig die Unterhaut von der Lederhaut und rissen sich dabei die Hände blutig.
«Und dir macht diese Arbeit wirklich nichts aus?» Marusch sah Marthe-Marie nach ihrem ersten Arbeitstag prüfend an.
«Sehe ich so schwächlich aus? Ich bin froh, endlich zu unserem Unterhalt beizutragen, auch wenn meine Hände jetzt schon völlig verschrammt sind.»
«Ich meine damit nicht nur die harte und schmutzige Arbeit – alles rund um die Gerberei ist halt unehrliches Handwerk.»
Marthe-Marie winkte ab. «Was soll’s. In diese Stadt werde ich mein Lebtag nicht mehr zurückkehren. Sollen die Leute über mich denken, was sie wollen. Außerdem: Zu den Unehrlichen gehöre ich längst.»
So verließen die Gaukler jeden Morgen vor Sonnenaufgang die Herberge, um in alle Richtungen zu ihrem jeweiligen Broterwerb auszuschwärmen. Gemeinsam war ihnen, dass sie allesamt als Tagelöhner arbeiteten – keiner wusste, ob er am nächsten Tag wiederkommen durfte oder sich nach einem neuen Herrn umsehen musste.
Einzig Salome ging wieder ihre höchst eigenen Wege. Sie hatte sich gleich am ersten Tag von der Truppe abgesetzt und, entgegen der Weisung des Torwärters, im inneren Bezirk der Stadt Unterkunft als Tischgängerin im Haus eines Wollwebers genommen. Obgleich ihr das teuer kam, brachte sie dem Prinzipal jeden Sonntag Geld, von Woche zu Woche mehr. Jeder ahnte, dass sie ihre Einkünfte heimlich und ohne Konzession durch Wahrsagen und Handlesen erzielte.
«Du stehst mit einem Bein im Turm, ist dir das klar?», schalt Sonntag sie nach der zweiten Woche.
«Erstens ist es mein Bein, und zweitens ist das nichts Neues. Richtig an den Kragen konnte mir bisher noch keiner. Und hier in Horb wird mir schon gar nichts geschehen.»
Tatsächlich hatte sie niemand Geringeren als den Obervogt des Innsbrucker Erzherzogs zum Kunden gewonnen. Bald ging sie in der Oberen Veste aus und ein, um ihn und seine Gefolgschaft zu beraten, wie sie selbst es nannte.
Am ersten November, dem Festtag aller Heiligen, war es zu einem hässlichen Vorfall gekommen, der beinahe zum Streit zwischen Marthe-Marie und Marusch geführt hätte. Sie waren gerade erst den dritten Tag in der Stadt, bis auf Maximus und Diego hatte noch keiner Arbeit gefunden, und die anderen beratschlagten ein ums andere Mal, wie sie vorgehen sollten, um endlich zu Geld zu kommen.
«Wir Kinder könnten alle dazu beitragen, statt hier nur herumzuhocken», sagte Antonia und warf ihrer Freundin Isabell einen viel sagenden Blick zu. «Mir und Isabell würde es jedenfalls nichts ausmachen, und den anderen sicher auch nicht.»
«Was meinst du damit?» Marusch sah sie misstrauisch an.
«Na ja, heute ist doch Allerheiligen, und für diesen Tag ist das Bettelverbot für Fremde aufgehoben. Mit den beiden Kleinen sind wir zu siebt, da könnten wir eine Menge –»
Bevor sie ihren Satz auch nur beenden konnte, hatte Marusch ausgeholt und ihr eine so kräftige Ohrfeige versetzt, dass Antonia aufschrie.
«Warum warst du so hart zu Antonia? Sie hat es doch nur gut gemeint», fragte Marthe-Marie sie später unter vier Augen.
«Ich weiß. Aber ich werde meine Kinder niemals betteln lassen, niemals!» Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Marthe-Marie sah ihre Freundin überrascht an. So aufgebracht hatte sie Marusch selten erlebt.
«Das ist doch kein Grund, Antonia so hart anzupacken. Du bist ungerecht.»
«Was weißt du schon von meinen Gründen», fauchte Marusch.
«Dann nenn sie mir. Weißt du, manchmal habe ich deine Geheimnistuerei wirklich satt. Du unterscheidest dich in nichts von Diego.»
Marusch sah sie mit großen Augen an, dann verdrängte ein Anflug von einem Lächeln die Wut in ihrem Gesicht. «Du hast Recht. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dir ein paar Dinge zu erzählen.»
Sie nahm ihr Tuch vom Kopf, legte es neu zusammen und band es sich wieder um die Stirn. «Ich bin ein Findelkind, weiß nichts über meine Familie. Aufgewachsen bin ich unten in der Walachei unter Zigeunern, in der Obhut einer alten Frau. Ich hab sie Großmutter genannt, obwohl wir nicht verwandt waren.»
«Du bist eine Zigeunerin?»
«Nicht einmal das weiß ich. Meine Eltern seien tot, mehr habe ich von Großmutter nie erfahren. Später, als junges Mädchen, malte ich mir oft aus, ich sei eine Grafentochter oder eine Prinzessin, die von den Zigeunern entführt worden war und eines Tages die leiblichen Eltern wieder finden würde.» Marthe-Marie lachte. «Aber wie du siehst,
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