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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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so winzig, dass Marthe-Marie sie aus der Entfernung nicht entziffern konnte. Umso mehr sprang das Bild ins Auge: Drei nackte Frauen mit offenem Haar, die inmitten von Totenschädeln auf einem Weinberg thronten, brauten in einem riesigen Kessel ein Gewitter.
    Sonntag las den Text sorgfältig durch.
    «Woher hast du das Blatt?»
    «Jemand hat es mir unbemerkt an den Karren geheftet.»
    Der Prinzipal runzelte die Stirn und reichte das Flugblatt an Diego weiter. «Das könnte eine Warnung sein. Zumal hier amEnde ein Aufruf steht, alles Ungewöhnliche und Fremde der Obrigkeit zu melden.»
    «Warum Warnung?» Marthe-Marie sah zu Marusch. «Was haben wir mit Hagelschlag und Feuer im Weinberg zu schaffen?»
    «Nichts. Aber wann immer es irgendwo zum Schlechten steht, wann immer die Leute einen Sündenbock suchen, sollten wir Fahrenden uns schleunigst vom Acker machen. Das müsstest du eigentlich gelernt haben.»
    Marthe-Marie spürte Salomes forschenden Blick auf sich gerichtet und fragte sich einmal mehr, was die Wahrsagerin von ihr dachte. Sie fasste sich ein Herz und fragte: »Glaubst du eigentlich daran? An Hexenverschwörungen und all diese Dinge?»
    «Nicht an Verschwörungen, aber an Unholde.» In Salomes Stimme lag weder Feindseliges noch Argwohn. «Und ich denke, der Fluch einer Hexe kann jeden treffen. Ein Fremder spuckt dir auf die Türschwelle, und schon wird deine Familie krank, das Vieh verreckt, der Wein wird zu Essig, der Brunnen im Hof versiegt. Was ist das anderes als Hexerei?»
    «Was für ein hanebüchener Blödsinn!» Diego knüllte das Blatt zusammen und warf es zu Boden. «Lasst euch doch nicht ins Bockshorn jagen von diesem Geschmier. Falls wir in Rottenburg Gelegenheit bekommen aufzutreten, sollten wir das gefälligst auch tun. Sind wir Spielleute oder Hasenfüße?»
    Nur Maximus und Quirin murmelten Zustimmung. Die anderen schwiegen.
    Letztendlich wurde ihnen die Entscheidung durch zwei Vorkommnisse abgenommen, die einen Schatten auf den hoffnungsvollen Neuanfang warfen. Als Marthe-Marie am nächsten Morgen erwachte, hörte sie von draußen die aufgeregten Stimmen Maruschs und Mettels. Zugleich stieg ihr ein ekelerregender Gestank in die Nase. Sie kletterte aus dem Wohnwagen, in dem sie mit den Kindern und den anderen Frauen schlief, und entdeckte die Ursachedes Übels: Der Kutschbock des Wagens war über und über verklebt mit fetten, stinkenden Schlieren verfaulter Eier. Marthe-Marie hielt sich ihre Schürze vor die Nase.
    «Heiliger Sebastian! Was ist denn das?»
    «Nektar und Ambrosia.» Marusch reichte ihr Eimer und Bürste. «Hier, mach weiter. Ich hole noch einen Eimer frisches Wasser. Dass die Männer bei dem Gestank überhaupt schlafen können.»
    Mettel grinste. «Jede Wette, dass sie erscheinen, wenn wir mit dieser Drecksarbeit fertig sind. Dass faule Eier aber auch dermaßen stinken können.»
    Eine halbe Stunde später hatten die drei Frauen Kutschbock und Vorderfront des Wagens halbwegs sauber geschrubbt. Als sie den letzten Eimer klares Wasser gegen das Holz klatschten, schlenderten tatsächlich Diego und Sonntag heran. Sie rümpften die Nase.
    «Was riecht hier so streng?»
    «Frag nicht so blöd.» Marusch schleuderte Diego die Wurzelbürste vor die Füße. «Ihr hättet heute Nacht lieber Acht geben sollen, wer ums Lager herumschleicht. Willst du etwa immer noch in Rottenburg um Konzession bitten?»
    Diego zuckte die Schultern. «Wahrscheinlich waren das irgendwelche Dorfbuben.»
    Nach einem raschen Morgenmahl brachen sie auf. Die Mauern der Stadt waren bald in Sichtweite. Sie durchquerten einen Weiler unterhalb eines lang gestreckten Weinbergs, und trotz des milden, sonnigen Tages war keine Menschenseele zu sehen, weder in den Weingärten noch vor den Häusern oder auf der Straße. Für einen Werktag strahlte das Dorf eine unnatürliche Ruhe aus.
    «Seltsam», dachte Marthe-Marie. Sie rief Agnes und Lisbeth heran, die dem Wagen vorausliefen, und zog sie neben sich auf den Bock. Dann entdeckte sie die Menschenansammlung am Ortsausgang unter einer alten Eiche – genauer gesagt hörte sie zuallererstdie durchdringende, immer wieder ins Gekreisch umkippende Stimme.
    «Seid wachsam gegen die Kälte im Glauben, seid wachsam gegen falsche Propheten. Seht ihr nicht die Zeichen am Himmel und auf der Erde? Die allerorts von Feuer und Pest, von Krieg und Hunger, von Missgeburten und Ungeheuern künden? Seid ihr nicht geschlagen genug von Hagel und Feuersbrunst, die euren Wein vernichteten?

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