Die Tochter der Hexe
Beziehung zu Frankreich, diesem Land der Dichter und Philosophen, und das hat sie geprägt.»
«Und was ist hier anders, abgesehen von dieser herzigen Sprache?»
«Alles. Es begann mit der Vertreibung der habsburgischen Besatzer. Wie Phönix aus der Asche erhob sich Württemberg unter Herzog Christoph, der die fortschrittlichste Landesverwaltung seiner Zeit schuf. Das war vor fünfzig Jahren. Maße und Gewichte wurden im ganzen Land vereinheitlicht, Handel und Gewerbe begannen aufzublühen. Die katholischen Klöster wurden nicht geplündert wie andernorts in reformierten Ländern, vielmehr wurden deren Schätze für Bildung, Pfarrerbesoldung und die Armenkasse verwandt. Herzog Christoph wandelte sie in protestantische Klosterschulen für begabte Knaben um und gründete das berühmte Tübinger Stift. In dieser Zeit führte er auch die Schulpflicht ein. Sogar für Mädchen, stell dir vor.» Er zwinkerte ihr zu. «Hier bist du mit deinen Rechen- und Schreibkünsten nichts Besonderes.»
Marthe-Marie hatte zwar noch nie etwas von einem Tübinger Stift gehört, aber sie war beeindruckt.
«Erzähl weiter.»
«Als Herzog Christoph mit nur dreiundfünfzig Jahren starb, hinterließ er ein gefestigtes, blühendes Land! Und zum großen Glück für dieses Land führten sein Sohn Ludwig und später sein Vetter Friedrich dieses Werk fort. Ludwig, ein Liebhaber der schönenKünste, setzte sich vor allem für Schulwesen und Wissenschaft ein. Er war ein Förderer der Tübinger Universität und Gründer des Collegium illustre für hohe Landesbeamte und Adlige, als Gegenstück sozusagen zum Tübinger Stift der Theologen.»
«Dann ist Tübingen so etwas wie ein Hort der großen Denker?»
«Genau! Hier findest du so berühmte Gelehrte wie Johannes Reuchlin und Philipp Melanchthon oder den Botaniker Leonhard Fuchs.» Seine Augen strahlten. «Friedrich schließlich, der Vetter aus der Mömpelgarder Seitenlinie, ist ein Herrscher, der Großes vorhat. Eine seiner Schöpfungen, Freudenstadt, hast du ja kennen gelernt. Nicht nur kaufte er Württemberg endgültig von den Habsburgern los, er fördert auch Handel und Handwerk, Ackerbau und Viehzucht mit einem unglaublichen Aufwand. Zusammen mit seinem Baumeister Schickhardt legt er ein Netz von Straßen und Brücken an, errichtet Bergwerke und Schmelzhütten, kanalisiert Flüsse. Wie ich gehört habe, sind die beiden im Augenblick dabei, das gesamte Territorium zu vermessen. Unter den Menschen dieses Landes muss eine ungeheure Aufbruchstimmung herrschen.»
Unwillkürlich blickte sich Marthe-Marie um, doch die Krämer und Bauern um sie herum wirkten ganz unaufgeregt – sie priesen ihre Ware so lautstark an und feilschten so verbissen wie die Marktleute überall im Reich.
«Und noch etwas – es gibt hier mehr Gerechtigkeit. Herzog Ludwig hatte damals ein Landesgesetz geschaffen, das Rechtssicherheit für alle schuf und der Willkür Einzelner scharfe Grenzen setzte. Gerade in diesen Zeiten», er zögerte, «wo in Deutschland kein Scheiterhaufen verglüht, ohne dass der nächste nicht schon errichtet ist – wo sich der Wahn der Hexenverschwörung nicht nur im Volk, sondern vor allem in den Köpfen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit wie die Pest ausbreitet, haben hier die Opfer böswilliger Bezichtigungen die beste Aussicht, mit heiler Haut davonzukommen.Denn seit Ludwig verläuft der Hexenprozess wie jeder Strafprozess in klar geregelten Bahnen. Alles unterliegt der strengen Kontrolle des herzoglichen Oberrats, und bei Zweifeln muss der Rat von Rechtsgelehrten eingeholt werden.»
«Langsam beginne ich zu verstehen, was dich an dieses Württemberg bindet. Warum bist du nicht schon früher hierher gekommen?»
«Es hat sich nie ergeben. Du weißt ja – erst meine Jahre in Spanien, dann traf ich auf Sonntag mit seiner Compagnie, und der hatte andere Ziele.»
Sie glaubte ein unsicheres Flackern in seinem Blick zu erkennen. Inzwischen hatten sich die anderen zu ihnen gesellt.
«Ich habe mit dem Dorfschultes gesprochen», sagte Sonntag. «Wir können auf dem Anger unser Lager aufschlagen. Morgen früh reiten Diego und ich dann nach Tübingen. Ich bin mir sicher, dass wir dort einige Tage gastieren dürfen.»
«Ich möchte mitkommen.» Marthe-Marie bemerkte Diegos überraschten Blick. «Ja, du hast mich neugierig gemacht mit deinem Vortrag.»
Doch mit ihrem Neuanfang als Gauklertruppe schien es wie verhext. Sie hatten ihr Lager aufgeschlagen, dann die Tiere versorgt, und aus dem Dorf
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