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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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lachten sie nur und erwiderten, es handle sich um ein Abschiedsgeschenk von ihrem Vater.
    Anfangs wandten sich viele Mädchen aus Andover an mich, vermutlich in der Hoffnung, ich hätte mir während der langen Kerkerhaft die nötige Gerissenheit angeeignet, um mich im Gefängnis zu behaupten. Doch da ich mich völlig in mich selbst zurückgezogen und die Welt ausgesperrt hatte, schreckte meine Gleichgültigkeit sie bald ab. Nur ein einziger Mensch hätte mich aus meiner Niedergeschlagenheit holen können. Doch die Betreffende würdigte mich keines Blickes, kam nicht auf mich zu und lag nur, ins Leere starrend, auf dem Schoß meiner Tante. So schleppten sich meine Tage in einem grauen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen dahin. Die flehenden Worte, die Tom, Vater, Dr. Ames oder Reverend Dane an mich richteten, nahm ich nur als Hintergrundgeräusche wahr. Bitte iss, Sarah . Bitte steh auf, Sarah. Bitte antworte, Sarah . Bitte, bitte, bitte … Irgendwann hielt ich mir die Ohren zu und vergrub das Gesicht im Stroh, bis der Sprecher es aufgab. Hannah Tyler, die meinen Zustand als Schwäche deutete, wollte die Hand unter meine Schürze stecken, um mir das dort verborgene Stück Maisbrot zu stehlen. Auch als ich ihre Hand wegstieß, ließ sie nicht locker und bog mir die Finger auseinander, um mir das Brot gewaltsam zu entreißen.
    Da schaute ich auf und sah ein bleiches, von Gier verzerrtes Gesicht vor mir. Beim Anblick der vorstehenden Zähne und der heraushängenden Zunge musste ich an Phoebe Chandlers gehässige Miene und ihr »Hexe, Hexe, Hexe«-Geleier denken und fuhr so plötzlich hoch, dass meine Widersacherin das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Dennoch musterte sie mich nur weiter abfällig und setzte zu einem erneuten Versuch an. Dieser Ausdruck war es, der für mich das Fass zum Überlaufen brachte. Mittlerweile hatte Tom sich angeschlichen, um sich nötigenfalls zwischen uns zu werfen, aber ich achtete nicht auf ihn. »Wenn du mich noch einmal anfasst, werden dir die Finger abfaulen«, sagte ich zu Hannah.
    Sie mahlte zwar zornig mit dem Kiefer, hielt aber inne.
    »Du rührst mich nie wieder an«, zischte ich drohend. »Du bist eingesperrt, weil du verkommen und hässlich bist, während ich hier sitze, weil ich die Tochter meiner Mutter bin.«
    Sie wich zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die Frauen beklommene Blicke wechselten. Als ich mich in der Zelle umschaute, stellte ich fest, dass ich mit meiner Warnung tief sitzende Ängste geweckt hatte, auch ein Kind könnte eine Hexe sein. Goodwife Faulkner und die anderen Frauen aus Andover, die sich um sie scharten, senkten die Köpfe, als ich sie anstarrte. Aber im nächsten Moment hörte ich eine mahnende Stimme dicht an meinem Ohr: »Widerstehe dem Teufel und allen seinen Werken.« Die Sprecherin hatte diese Worte an mich gerichtet. Ich bin es doch nicht, die lange Finger gemacht hat, dachte ich zornig.
    Da erhob sich ein dunkler Schatten an der Wand und schlich auf uns zu. Der Schatten hatte die Gestalt einer Frau, die mehrere Schichten schmutziger Mäntel übereinandertrug. Wochenlang hatte ich beobachtet, wie sie reglos an der Wand lehnte. Ihr glänzendes schwarzes Gesicht war unbewegt, und sie schenkte weder den Geistlichen noch ihren Mitgefangenen Beachtung. Den Mund öffnete sie nur, um die winzigen Portionen Brot und Haferbrei hineinzuschieben, die ihr Herr ihr brachte. Sie gehörte zu den Ersten, die in Salem vor Gericht gestellt und eingesperrt worden waren, und lag nun schon seit dem eiskalten und windigen Februar in Ketten. Reverend Parris, der Geistliche von Salem, der sie als Sklavin aus ihrer Heimat Westindien verschleppt hatte, hatte ein Geständnis aus ihr herausgeprügelt, sodass sie seitdem einen krummen Rücken hatte. Ihre Zauberkräfte waren so schwach wie ihr Körper und so zerbrechlich wie das Venusglas, mit dem sie den Dorfmädchen geholfen hatte, die Zukunft vorherzusagen.
    Nun stieg sie über die am Boden liegenden Frauen hinweg, als wate sie durch einen Bach, und blieb vor Hannah stehen, die rückwärts davonkroch, um sich vor dieser schwarzen Erzhexe in Sicherheit zu bringen. Die Frau ließ die dunklen Augen durch den Raum schweifen. Dann hielt sie die gefesselten Hände wie eine Opfergabe empor und rief: »Wollt ihr die Hand des Teufels sehen? Die Hand des Teufels liegt um mein Handgelenk.«
    Sie drehte sich in alle Richtungen um, sodass jeder die Eisenketten ansehen musste, deren Glieder sich wie

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