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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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zerbröckelte alsbald zu Staub. Augen hielten unter zufallenden Lidern noch einmal Ausschau, bis ihr Blick auf die hochgewachsene Gestalt traf, die allein auf einer kleinen Anhöhe hinter der Menschenmenge stand. Der Riese von Cardiff hatte sein Versprechen gehalten und war gekommen, um uns alle zu vertreten. Barhäuptig und reglos hob er sich vom schwindenden Licht der Welt ab wie die Nadel eines Kompasses, die nach Norden zeigte und Mutter über Salem und Andover hinaus den Weg in ihre letzte Heimat wies.

9
    August 1692 - Oktober 1692
    I m Traum bin ich im Voratskeller meiner Tante. Dass es ihr Keller ist, erkenne ich an der feuchten Kälte und dem muffigen Geruch nach Dingen, die unter der Erdoberfläche hart und zwiebelförmig geworden sind. In der braunsamtigen Dunkelheit sehe ich die undeutlichen Umrisse der Körbe, die Margaret und ich im Herbst gefüllt und während des langen Winters wieder geleert haben. Über meinem Kopf höre ich Schritte. Jemand geht in der Wohnküche des Onkels hin und her. Außerdem dringen Stimmen an mein Ohr, die sprechen, lachen und weich wie Sägemehl durch die Ritzen in den Dielenbrettern rieseln. Über mir herrschen Licht und Leben. Doch die Kellerluke ist geschlossen, und ich besitze nur einen winzigen Kerzenstummel, dessen Docht schon beinahe heruntergebrannt ist. Niemand antwortet auf mein Rufen. Auch meine Tritte gegen die Wände aus nackter Erde bleiben ergebnislos. In der Dunkelheit spitze ich die Ohren, denn in allen Ecken des Kellers raschelt es, was mich an Seufzer erinnert. Es ist nicht das harte Scharren einer Maus oder Ratte, sondern klingt viel leiser und zarter. Fast geduldig, möchte man sagen. Es ist wie das Knistern eines Käferflügels oder der pulsierende Kehlsack einer Heuschrecke auf einem Weizenhalm. Das trockene Flüstern von Wurzelspitzen, die sich durch die Erdwände des Kellers bohren. Schlanke, schmal zulaufende Wurzeln, manche so fein wie Spinnweben, tasten sich in die Mitte der Höhle vor, wo ich sitze. Angelockt von meinem warmen, immer schneller werdenden Atem, schlingen sie sich um meine Füße, Knöchel, Handgelenke und Hände. Dann wickeln die Wurzeln, einer zärtlichen Umarmung gleich, ihre langen Ranken um meine Oberschenkel, die Taille und die Brust. Immer enger ziehen sie sich zusammen, halten mich fest und strecken sich schließlich nach meinem Gesicht aus. In diesem Moment flackert die Kerzenflamme und verlöscht. Ich sitze im trüben Licht des Kellers, den Mund verschlossen und stumm, Stille in den verstopften Ohren, und die weit aufgerissenen Augen blind. Und dann erwache ich. In den Tagen nach dem Tod meiner Mutter kommt dieser Traum immer wieder und wieder. Jedes Mal, wenn ich die Augen aufschlage, bin ich noch immer in einer Zelle im Gefängnis von Salem. Und draußen regnet es.
    Der leuchtend blaue Sommerhimmel war inzwischen von düsteren Wolken bedeckt, die jeden Blitz noch vor dem Aufleuchten erstickten und den darauf folgenden Donnerschlag zu einem dumpfen Grollen dämpften. Das Regenwasser sickerte durch den brüchigen Mörtel zwischen den Steinen und rann in Bächen die offenen Schlitze an den Wänden hinunter. Bald verwandelte sich das Stroh auf dem Boden in einen aufgeweichten und säuerlich riechenden Matsch, der durch das Leder unserer Schuhe drang. So weit wie möglich entfernt von den feuchten Mauern, drängten wir uns eng aneinander, um uns zu wärmen. Wenn es wirklich gestimmt hätte, dass mehr als sechzig Hexen im Gefängnis von Salem in Eisen lagen, hätten sie doch eigentlich die Macht haben müssen, das Dach von seinen Balken zu heben und zu entfliehen. Doch die Nägel rosteten weiter in den Holzbohlen vor sich hin, die Gitterstäbe an den Fenstern rührten sich nicht, und auch die Riegel ließen sich nicht erweichen. Hinzu kam, dass wir alle, vom kleinen Mädchen bis zur Greisin, vier Kilogramm schwere Ketten mit uns herumschleppten.
    Das launische und regnerische Wetter war vom Nordosten herangezogen, preschte anschließend von Falmouth nach Wells und dann weiter die Küste entlang nach Kittery und Salisbury wie eine schwarze Stute, die man mit Brennnesseln gefüttert hatte. Später trieb ein Gegenwind von Cape Anne die Gewitterwolken ins Landesinnere nach Marblehead und Merrimack. Der Wind trug auch die panische Furcht vor Spukgestalten, begleitet von Missgunst, vom Dorf Salem nach Westen, sodass im September mehr als dreißig Frauen und dreizehn Männer in Andover festgenommen wurden. Die Hälfte der Gefangenen

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