Die Tochter der Ketzerin
war noch nicht volljährig. Inzwischen bekamen auch in Andover junge Mädchen dieselben merkwürdigen Anfälle wie ihre Altersgenossinnen in Salem. Und so ordnete Reverend Barnard während der nächsten Andachten Berührungsproben an, um die Übeltäter zu entlarven. Am 7. September wurden viele angesehene Bürger von Andover ins Versammlungshaus zitiert, wo sie sich vor der Kanzel aufstellen und von den kreischenden und zuckenden Mädchen berühren lassen mussten. Wurde ein Mädchen schlagartig von seinen Leiden geheilt, handelte es sich bei der berührten Person um die an seinem Zustand schuldige Hexe. Die Gefängnistüren öffneten und schlossen sich unablässig, und bald bezogen sieben Mitglieder von Reverend Danes Familie in Hörweite zu mir Plätze in der dunklen Zelle. Ein erst dreizehn Jahre alter Enkel des Reverend wurde in die Männerzelle zu Richard und Andrew gesteckt.
Allerdings wurde die Familie Dane nicht als einzige in Mitleidenschaft gezogen. Andover erwachte und stellte fest, dass überall in den Häusern und auf den Feldern Hexen lauerten. Eine Tochter, die Kräuter auf einer Maisdarre trocknete, machte sich verdächtig. Eine Nichte, die einen ungebackenen Brotlaib mit einem Daumenabdruck kennzeichnete, wollte ihn sicher verzaubern. Und die liebende Gattin, die ihren Mann im Ehebett willkommen hieß, war in Wirklichkeit ein Sukkubus, der nichts anderes im Schilde führte, als dem Bedauernswerten das Lebensblut auszusaugen. Ein falsches Wort, ein nicht beigelegter Zwist, eine vor einer halben Generation gefallene Beschimpfung oder Beleidigung, alles wurde ans Licht gezerrt und gewann plötzlich eine ungeahnte Bedeutung. Ein Mann namens Moses Tyler zeigte seine Schwester, fünf ihrer Töchter, die Schwiegermutter seines Bruders und die Frau und die drei Töchter eines anderen Bruders an und sorgte dafür, dass sie ins Gefängnis wanderten. So sahen das Mitgefühl, die Großzügigkeit und die Gnade aus, die man Frauen an jenem schrecklichen und schändlichen Mittwoch in Reverend Barnards Versammlungshaus zuteilwerden ließ. Und das Ergebnis war, dass Reverend Barnard selbst zum unangefochtenen Herrscher über eine belagerte Stadt wurde, da sein älterer und geschwächter Amtskollege sich nicht mehr gegen ihn durchsetzen konnte.
Jede neu Eingekerkerte bringt Angst in die Zellen wie die Striemen eines Geprügelten, denn niemand weiß, ob nicht vielleicht doch Hexen Seite an Seite mit den Unschuldigen sitzen. Inzwischen kann man in der »guten« Zelle nicht mehr umhergehen, denn der Platz genügt gerade noch, um die Sitzhaltung zu wechseln, sofern man sich vorher mit seiner Nachbarin abspricht. Nie ist es völlig still. Viele Frauen haben sich in der feuchten Kälte einen schweren Husten eingefangen, sodass der Lärm nachts sogar noch größer ist als tagsüber. Sarah Wardwell, eine Nachbarin, die in Andover nördlich von uns wohnte, ist mit ihrer älteren Tochter und ihrem noch kein Jahr alten Säugling eingesperrt. Das Kleinkind ist kränklich und mager und schreit in den frühen Morgenstunden oft ohne Unterlass. Samuel Wardwell, der Vater des Kleinen, sitzt in der Männerzelle ein und wird noch vor Ende des Monats zum Tod durch den Strang verurteilt werden. Die Frau mit dem faulen Zahn wehklagt die ganze Nacht und den Großteil des Tages vor Schmerzen, und auch der Alkohol, den man ihr in immer größeren Mengen einflößt, kann ihr keine Erleichterung mehr bringen. Dieser Alkohol wurde auch mir verabreicht, um meine verängstigten und verzweifelten Schreie zum Verstummen zu bringen, als meine Mutter zum letzten Mal aus ihrer Zelle geführt wurde.
Sobald ich hörte, wie ihre Schritte auf der Treppe verklangen, zerrte ich heftig an den Gitterstäben und stieß ein schrilles Kreischen aus, das die stickige Luft auf dem Flur durchschnitt wie ein Messer. Ich spürte, wie starke Arme mich packten und wegzogen. »Still jetzt«, zischte eine Stimme mir ins Ohr. »Oder willst du, dass deine Mutter zuletzt noch dein Gejammer im Ohr hat? Es wird sie nur trauriger machen. Also sei ruhig und ihr zuliebe tapfer.« Doch mein bitterliches Schluchzen wollte nicht verstummen. Um mich schlagend und mit gefletschten Zähnen, wehrte ich mich gegen die Frauen, die mich festhalten wollten. Ich war kein Kind mehr, sondern tobte wie eine Wahnsinnige ohne Sinn und Verstand, für die es kein Halten mehr gab. So lange trat und biss ich, bis man mir den Kiefer auseinanderzwang und mir eine bittere Flüssigkeit in den Mund
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