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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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wachsende Wut hatte. Diese Wut war mein Schild und meine Rüstung gegen das tief sitzende Schuldgefühl, das mir schier die Seele in der Brust zerreißen wollte, denn schließlich war ich nicht unbeteiligt daran gewesen, meine Mutter an den Galgen zu bringen.
    Am Samstag, dem 17. September, verhandelten die Richter gegen acht weitere Frauen und sprachen sie schuldig. Eine von ihnen war Abigail Dane Faulkner. Vor der Mittagszeit wurde sie mit ihren beiden Töchtern, die gezwungen worden waren, gegen sie auszusagen, zurück in die Zelle gebracht. Auf unsicheren Beinen ging sie zu ihrem Platz an der Wand und drückte die Mädchen an ihren schwangeren Leib. Grauen ergriff uns, als wir erfuhren, dass eine Frau so kurz vor der Niederkunft dem Henker ausgeliefert werden sollte. Miles Corey, der einzige Mann, der an diesem Tag vor Gericht gestanden hatte, verweigerte jegliche Aussage und bekannte sich weder schuldig noch nicht schuldig. Er war der Ehemann von Martha Corey und achtzig Jahre alt. Als man ihn wiederholt aufforderte, die Fragen der Richter zu beantworten, verschränkte er nur die Arme, schob das Kinn vor und starrte zu Boden. Weil er nicht reden wollte, wurde er gefoltert, um seine Zunge zu lockern. Am 19. September, einem milden, windigen Tag, führte man Goodman Corey aus seiner Zelle auf den Gefängnishof hinaus und zwang ihn, sich rücklings auf die Erde zu legen. Nachdem man ihm Hände und Füße an Pflöcke gefesselt hatte, legte man ihm ein Brett auf die Brust und stapelte schwere Steine darauf, bis er weder den Brustkorb heben, noch Atem holen konnte. »Mehr Gewicht«, lauteten seine letzten Worte und waren das Einzige, was seine Folterknechte je von ihm zu hören bekamen.
    Seine Zunge lockerte sich erst im Tode, denn die schweren Steine hatten sie ihm durch die leblosen Lippen gedrückt, sodass der Sheriff sie mit der Spitze seines Stocks wieder hineinschieben musste. Nach dem Tod von Miles Corey schien der Wind über Salem aus einer anderen Richtung zu wehen. Dorcas Hoar, die bereits verurteilt worden war und am 22. des Monats hingerichtet werden sollte, änderte ihre Meinung und gestand, sie sei schon seit vielen Jahren eine Hexe. Ebenfalls begnadigt wurde Abigail Dane Faulkner, und zwar mit Rücksicht darauf, dass sie in anderen Umständen war.

    Nachdem Goodwife Corwin mir fünf oder sechs Tage lang Lebensmittel zugesteckt hatte, rückte sie endlich damit heraus, welche Gegenleistung sie dafür erwartete. Als sie eines Morgens hereinkam, wirkte sie verzweifelt und aufgebracht, nestelte händeringend an ihrer Schürze herum und strich sie wieder glatt. Wie immer kam sie auf mich zu und warf mir etwas auf in Schoß. Dann raunte sie, damit niemand sie hören konnte: »Mein guter Mann sagt, du hättest Heilkräfte.«
    Verständnislos starrte ich sie an, bis sie hinzufügte: »Dein Bruder. Der, dem der Arm abgenommen werden sollte. Der Arzt war sicher, dass er sterben würde. Und dennoch hat er überlebt und ist wieder gesund.« Sie wartete ab, und als ich nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Ich habe eine Tochter. Etwa in deinem Alter.« Sie betrachtete meinen Scheitel, und mir fiel ein, wie sie mich mit der Handfläche abgemessen hatte. Sicher hatte sie gedacht, mein Kleid könnte ihrer Tochter passen.
    »Sie ist sehr krank und schwebt in Lebensgefahr. Der Arzt sagt, er könne nichts mehr tun. Außer …« Ihre Stimme erstarb. Endlich dämmerte mir, was sie von mir erwartete, und meine Kopfhaut zog sich vor Angst zusammen. Da beugte sie sich näher zu mir. »Heile sie, und du wirst immer genug zu essen haben, solange du hier bist«, zischte sie. Ich schaute an ihren erwartungsvoll aufgerissenen Augen vorbei und sah eine endlose Aneinanderreihung von Tagen vor mir, die ich hier im Gefängnis verbringen würde, dem Hungertod ausgeliefert oder halbwegs satt, ganz wie es meinen Wärtern in den Kram passte. Sie nahm mein Schweigen als Zustimmung und überließ mich den fragenden Blicken meiner Zellengenossinnen.
    In den frühen Morgenstunden des 22. September öffnete der Himmel seine Schleusen, und über die Häuser und Menschen von Salem Stadt brach eine Sintflut herein. Das Wasser rann in Bächen durch Straßen und Gassen, sammelte sich an den Fundamenten und überschwemmte Untergeschosse und Kriechkeller. Die überfluteten Straßen verwandelten sich in Flüsse, über die Menschen und Tiere hinwegspringen mussten, um nicht bis zu den Knien nass zu werden. Als Sheriff Corwin die Kellertür öffnete und mit

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