Die Tochter der Ketzerin
geschlossene Kreise aneinanderreihten und Geburt, Leben und Tod umfassten. Im nächsten Moment ließ sie die Hände wieder sinken, richtete ihre großen, glänzenden Augen auf mich und holte tief Luft. »Ich bin auch die Tochter meiner Mutter«, stieß sie stockend hervor, als litte sie Schmerzen. Als tiefes Schweigen auf ihre Worte folgte, wandte sie sich um und kehrte zu ihrem Platz an der Wand zurück. Ich hörte sie nie wieder ein Wort sprechen. Die Frau hieß Tituba. Nach ihrer Entlassung wurde sie an einen neuen Besitzer verkauft und verschwand aus den Erinnerungen der Menschen wie ein Stein, den man in einen Brunnen geworfen hat.
Von diesem Moment an wurde ich in Ruhe gelassen. Abgesehen von Tom, der sein Bestes tat, um mich zu beschützen und mit Essen zu versorgen, wagte sich kaum noch jemand an mich heran. Nur Dr. Ames bildete eine Ausnahme. Und die Frau des Sheriffs.
Unter der Erde war es nicht leicht, den Überblick über die Zeit zu behalten. Die Lichtverhältnisse änderten sich eigentlich nur bei Sonnenuntergang wesentlich, wenn die Strahlen durch die hoch in der Wand liegenden Schlitze drangen wie die Frühlingssonne in ein Grab in Cornwall. Da es bis Mitte September pausenlos regnete, konnten wir wochenlang Tag und Nacht nicht mehr voneinander unterscheiden. Schließlich hörte der Regen auf, doch die Nächte wurden plötzlich bitterkalt. Als eines Morgens die Frau des Sheriffs in unserer Zelle erschien, wusste ich, dass es Freitag sein musste. Am Vorabend hatte man ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Elizabeth Colson, das im Mai festgenommen und angeklagt worden war, zu uns in die Zelle gebracht. Sie war von ihrem Zuhause in Reading zu Verwandten nach New Hampshire geflohen, dort jedoch von den Wachtmeistern aufgespürt und im Schutze der Dunkelheit aus ihrem Versteck verschleppt worden. Elizabeth trug ein Kleid aus guter, selbst gesponnener Wolle, das Goodwife Corwin gern gegen Lebensmittel eingetauscht hätte.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass die robuste und wohlgenährte Elizabeth die Enkelin der alten Frau war, die den Arzt aus Salem, der Andrew den Arm hatte abnehmen wollen, zum Gespött gemacht hatte. Lydia Dustin, so der Name der Großmutter, war inzwischen so alt und abgemagert, dass sie aussah wie die böse Hexe aus einem Kindermärchen. Nun baute sie sich vor Goodwife Corwin auf und schwenkte ihren schmutzigen Rock. »Finger weg, gute Frau. Sie werden nichts von ihr kriegen. Aber ich habe hier ein schönes Kleid, das Sie für ein kleines Stück Brot haben können.« Die Frau des Sheriffs rümpfte angewidert die Nase und tastete sich, gefolgt vom blechernen Lachen der Greisin, über das Stroh zum Ausgang.
Doch plötzlich blieb sie, ein Stück entfernt von mir, stehen und musterte mich mit zur Seite geneigtem Kopf, als müsse sie über eine verzwickte Angelegenheit nachdenken. Sie klopfte mit dem Fuß auf den Boden, bis meine Sitznachbarin beiseiterückte, und kauerte sich hin, wobei sie darauf achtete, ihren Rocksaum nicht zu beschmutzen. Dann ließ sie mir etwas in den Schoß fallen. »Vergiss nicht, dass ich dir das gegeben habe«, sagte sie leise.
Mit diesen Worten stand sie auf und verließ die Zelle. Als ich hinunterblickte, stellte ich fest, dass es sich um eine Teigtasche handelte, die zwar hart war, aber mit Fleisch gefüllt zu sein schien. Rasch steckte ich sie unter meine Schürze. Doch die Frau neben mir hatte es trotzdem bemerkt und warf mir einen neidischen und argwöhnischen Blick zu.
In den nächsten Tagen erschien die Frau des Sheriffs immer wieder in unserer Zelle und steckte mir jedes Mal etwas Essbares zu. Ich versuchte zwar, die Geschenke mit Tom zu teilen, doch nach jenem ersten Tag lehnte er jeden Bissen ab, der vom Tisch des Sheriffs kam. Ich hatte da weniger Skrupel, denn der Hunger, bislang nur ein dumpfer Schmerz, meldete sich nun brüllend zu Wort wie ein Rattenhund, der zum ersten Mal Blut geleckt hat. Tom missgönnte mir das Essen nicht - ganz im Gegensatz zu vielen anderen. Allmählich wurden die täglichen Besuche der Frau des Sheriffs auffällig und gaben Anlass zu allerlei Gerüchten. So dauerte es nicht lang, bis ich denselben missbilligenden und vorwurfsvollen Ausdruck, der mich schon im Versammlungshaus verfolgt hatte, auch in den Gesichtern meiner Mitgefangenen erkannte. Ich wurde wortlos und ohne Gnade aus der Gemeinschaft ausgestoßen, was mir jedoch eher willkommen war, weil ich so wenigstens einen triftigen Grund für meine
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