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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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goss, die ich schlucken musste, um nicht daran zu ersticken.
    Diese Dosis wurde mir noch ein zweites und ein drittes Mal verabreicht. Wenige Minuten später zog sich das Ungeheuer zurück, und eine Wärme breitete sich vom Bauch bis in Beine, Brust, Arme und Kopf aus. Mein Verstand ließ los, sodass sich meine gequälten Gedanken anfühlten wie ein verdrehtes Laken unter einer dicken Steppdecke. Die Arme, die mich umklammert hatten, lockerten sich, und jemand, vielleicht Goodwife Faulkner, deren schwangerer Leib sich wölbte, bettete meinen Kopf auf ihren Schoß und sang mir flüsternd und tonlos ein Schlaflied vor.
    » Lula, mein liebes kleines Kind, lu, lu, la, Schlaf ein, mein liebes kleines Kind, bis der Tag ist da .«
    Ich starrte auf einen niedrigen Deckenbalken über meinem Kopf, bis die Astlöcher und Maserungen im Holz sich in die Fratzen von Männern und Frauen verwandelten. Manche trugen Larven oder Hüte, die sich wie gewaltige Kürbisse auf ihren Köpfen türmten. Ein Riss verwandelte sich in ein Pferd, das entgegen der Maserung galoppierte. Ein Wirbel wurde zu einem Handelsschiff, das drohte, über den Rand unserer kleinen bäuerlichen Welt hinabzustürzen. Der Deckenbalken war ein eigenes Phantasiereich, das keine Berührung mit der dämmrigen Zelle um mich herum hatte. Und plötzlich schoss mir ein klarer Gedanke durch den Kopf, der alle anderen Bilder verdrängte: Eines Tages, in einer fernen Zukunft, würde dieser Balken, der nun quer über mein Gesichtsfeld verlief, das Einzige sein, was von dieser Zelle übrig blieb, wenn alle Steine weggeschafft waren und der Rest zu Asche verbrannt wurde. Das Gefängnis, so unentrinnbar es mir heute auch erscheinen mochte, würde irgendwann einstürzen wie ein gewöhnlicher Keller. Der Mörtel würde zerbröckeln. Die Bohlen würden rissig werden und brechen. Die Steine würden in sich zusammenfallen. Und zu guter Letzt würde man die Höhle mit Schutt auffüllen, damit kein Spaziergänger stehen bleiben und sagen konnte: »Hier hat mein Urgroßvater, meine Großmutter oder eine entfernte Tante früher im dunklen Kerker geschmachtet.« Noch eine Stunde verging, und bevor ich die Augen schloss, um mich in die Schlucht des Schlafes fallen zu lassen, begannen die Gestalten auf dem Balken, sich zu bewegen.

    Der Tagesablauf blieb immer derselbe. Die Toiletteneimer wurden fortgetragen. Neues Stroh wurde ausgelegt. Angehörige kamen zu Besuch, um Lebensmittel zu bringen. Am Freitag erschien die Frau des Sheriffs, am Samstag der Arzt, und sonntags wurde gebetet. Der Montag war den Geistlichen vorbehalten, die ein Geständnis zu erzwingen suchten und uns mit Exkommunikation und Verdammnis drohten. Am 9. September fand die vierte Sitzung des Schwurgerichts statt, bei der sechs weitere Frauen verurteilt wurden: Martha Corey, Mary Easty, die Schwester von Rebecca Nurse, die im vergangenen Juli gehängt worden war, Alice Parker, Anne Pudeator, Dorcas Hoar und Mary Bradbury. Man sperrte die Bedauernswerten in die Todeszelle, sodass ich sie bis zur ihrer Hinrichtung nicht wiedersah. Allerdings hörten wir oft die heisere und atemlose Stimme von Martha Corey, wenn sie wieder einmal die Geistlichen beschimpfte, die ihr ein Geständnis abpressen wollten. »Ich bin genauso wenig eine Hexe wie ihr. Ich war niemals eine, und ich bin es auch heute nicht. Ihr könnt eure Akte über mich ruhig schließen. Aber mein Leben ist in Gottes Buch verzeichnet. Also dürft ihr euch meinen Hintern mit dem Teufel teilen, wenn ihr so darauf versessen seid.« Meistens trollten sich die Geistlichen dann wie begossene Pudel aus dem Gefängnis.
    Anfang September wurde schließlich auch den Kindern der Krieg erklärt. Abigail und Dorothy Faulkner, die neun und zwölf Jahre alten Töchter von Goodwife Faulkner, landeten ebenfalls hinter Gittern. Die beiden Mädchen waren schüchtern und verängstigt, wichen ihrer Mutter nicht von der Seite und klammerten sich selbst dann verzweifelt an sie, wenn sie mühsam aufstand, um den Toiletteneimer zu benutzen.
    Hannah, Joanna und Martha, die verwilderten und der Gewalt nicht abgeneigten Nichten von Moses Tyler, gehörten gleichermaßen zu meinen Zellengenossinnen. Die beiden Jüngeren waren Zwillinge und nahmen trotz ihrer erst elf Jahre auch älteren Mädchen die kärglichen Lebensmittelportionen weg. Bei der Ankunft wiesen alle drei Schwestern Blutergüsse und Striemen an Mund und Augen auf. Doch auf unsere entsetzte Frage, ob das die Richter gewesen seien,

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