Die Tochter der Konkubine
vorbeilässt?«
»Dann müssen wir versuchen, sie zu töten, ehe sie uns tötet.«
All diese Warnungen schossen durch Siu-Sings Kopf, aber jetzt war yan-jing-shin sehr nahe. Sie glitt - scheinbar endlos lang - aus dem umgefallenen Korb. Ihre Schuppen erzeugten auf dem groben Gewebe ein leises Knistern. Siu-Sing richtete sich lautlos auf. In diesem Augenblick war ihre Neugierde viel größer als ihre Angst. Sie bestaunte die fließenden Bewegungen der Schlange und die perfekten Muster auf ihrem Rücken.
Yan-jing-shi richtete sich neben ihr auf, so nahe, dass Siu-Sing in ihre lidlosen Augen sehen konnte, die wunderschönen Goldkugeln glichen und sie direkt anblickten. Ihr Bauch war weiß wie frischer Bohnenquark, die Haube aufgestellt wie eine Reisschüssel, ihre züngelnde Zunge spitz wie ein Speer. Sie fauchte wie eine Zibetkatze und stellte dabei Giftzähne zur Schau, so lang wie Vogelkrallen - und dann verschwand sie plötzlich in einer schwarzen Wolke.
Fisch hatte sich auf die Schlange geworfen. Unter den Falten geflickter Baumwolle warf sich die Schlange unter ihrem Gewicht wild hin und her und wand sich schließlich aus Fischs Röcken, um sich dann eilig die Furchen entlang davonzuschlängeln. Erst da fing Siu-Sing zu weinen an. Großonkel To war sofort an ihrer Seite, Fisch jedoch war schon wieder aufgestanden und wie durch ein Wunder unverletzt geblieben.
»Wir müssen vorsichtiger sein, Siu-Sing!« Sie klopfte sich die Erde von ihren schwarzen Röcken. »Wenn wir das nächste Mal Süßkartoffeln sammeln, müssen wir mit einem Stecken im Korb herumstochern, um zu sehen, ob sich yan-jing-shi darin versteckt hat.« Sie nahm Siu-Sing auf den Arm und drückte sie an sich.
»Einmal, da war ich noch nicht größer als du jetzt, griff ich nach einer Süßkartoffel, um sie zu schälen, und sah, dass ein Grashüpfer darauf saß, harmlos wie eine Fliege. Zumindest sah dieses Insekt aus wie ein Grashüpfer, vielleicht auch wie eine Heuschrecke oder wie eine Grille, bereit, mir ein Liedchen zu singen. Aber es war ein Skorpion, jederzeit zum Angriff bereit. Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.«
Der alte To sah nachdenklich drein. »Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, die ich jetzt schon in den Bergen lebe, und ich habe es nie erlebt, dass yan-jing-shi den Wald verlässt und ins Weideland kommt. Wir müssen wachsam auf diese Dinge achten.«
20. KAPITEL
Roter Lotus
Meister To saß mit Siu-Sing am Tisch unter dem Birnbaum. Fisch hatte süße Brötchen gebacken und eine Platte mit geschälten Lychees, Drachenaugen und Sternfrüchten hergerichtet. Als sie dieses schlichte Festmahl verspeist hatten, hob der alte To Siu-Sing von der Bank und hob sie hoch in die Luft, so dass sie an die mit Früchten behängten Äste langen konnte.
»Heute bist du fünf Jahre alt. Du darfst dir direkt vom Baum eine Glücksbirne aussuchen.«
Sie fand eine, die perfekt aussah, groß und blassgelb mit einem hauchfeinen rosigen Schimmer. Sie war so süß und saftig, wie sie aussah, und während Siu-Sing sie aß, sprach er auf eine Art mit ihr, die ihr sagte, dass die Zeit des Spielens vorbei war und die Zeit des Lernens beginnen musste.
»Heute«, sagte er, »werden wir den Ort aufsuchen, an dem du lernen wirst, eine Kriegerin zu sein, und den Ort, an dem du lernen wirst, eine Gelehrte zu sein. Ich möchte dir ein paar wunderbare Sachen zeigen - meine Geschenke zu deinem fünften Geburtstag.«
Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, trat in die Hütte und nahm von dem Bord hoch über dem Bett etwas, das in einer langen, grünen Samthülle steckte und oben mit goldenen Quasten zugebunden war.
Er nahm sie bei der Hand, und zusammen stiegen sie den Ziegenpfad hinauf, der zu einer Lichtung im Bambushain führte. Sofort war es kühl. Sonnenlicht blitzte durch das Geäst, das sich sanft bewegte, und verstreute Lichtsplitter über einen Teppich aus vertrocknetem Laub.
Von einer moosbewachsenen Felsnase sprudelte aus einer Quelle kristallklares Wasser in einen Teich, der von blauer Iris gesäumt wurde und in dem Lotuspflanzen wuchsen. Inmitten dieser verborgenen Lichtung war fachkundig eine einfache Laube errichtet worden, um deren Torbogen sich Baumorchideen rankten. Darunter stand ein fast runder Tisch, dessen glänzende Oberfläche wie die von den Gezeiten abhängigen Seeufer grüngelb marmoriert war. Um ihn herum standen drei Hocker, die aus Treibholz gezimmert waren.
»Das ist der Ort des klaren Wassers. Hierher
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