Die Tochter der Konkubine
komme ich, um nachzudenken, zu lesen und zu schreiben, und er wird dein Klassenzimmer sein.« Er legte die Hand auf den Tisch und ermunterte sie, es ihm nachzutun. Die Tischplatte fühlte sich kühl und glatt an, ihre fließenden Muster waren seltsam schön. »Das ist der Jadetisch. Er ist nur für deine Studien gedacht. Ich habe ihn vor Jahren eigenhändig hierhergetragen. Er wurde von Zeit und Weisheit poliert. Hier wirst du viele Dinge lernen und deinen Verstand entdecken.«
Aus der grünen Samthülle zog er so ehrerbietig ein Musikinstrument, als würde er den schönsten aller Edelsteine enthüllen.
»Dieses wertvolle Ding nenne ich Silbernachtigall. Es ist eine er-hu und wird schon seit tausend Jahren in den kaiserlichen Palastgärten gespielt. Auch diese habe ich vor so vielen Jahren, dass sie wie die Schwalben im Herbst fortgeflogen sind, eigenhändig angefertigt.«
Die er-hu war schön in ihrer Schlichtheit - der Griffhals, ein langer, gerader Stock aus Kirschenholz, war an der Spitze elegant geschwungen und in Form des Kopfes und der Brust einer Nachtigall geschnitzt. Die Stimmwirbel glichen ausgebreiteten Flügeln. Am unteren Ende des Griffhalses befand sich der Resonanzkörper, nicht größer als eine Reisschale, der mit der Haut einer Python bespannt war.
In stummem Erstaunen beobachtete Siu-Sing, wie To Platz nahm, das Instrument auf sein Knie stellte, den Nachtigallenkopf
nahe ans Ohr hielt und den Bogen über die einzige Saite führte. Die süßeste, geheimnisvollste Musik ertönte am Ort des klaren Wassers, erhob sich durch seine raschelnde Decke in den offenen Himmel.
Als die letzte reine Note verklang, lächelte er vor Freude über ihr Entzücken.
»Musik ist Herzensnahrung. Die Silbernachtigall gehört nun dir. Ich werde dir beibringen, wie man sie zum Singen bringt, so dass dein Herz niemals leer sein wird.«
Er steckte die er-hu in ihre Samthülle zurück, band die Quasten zu und hängte sie sich über die Schulter.
»Nun gehen wir zum Felsen großer Stärke. Du kennst ihn schon als Spielplatz, aber von nun an wird es der Ort sein, an dem du lernst, mit allem um dich herum eins zu sein, so dass du dich nie verloren fühlst. Du wirst lernen, so stark und aufrecht wie der Bambus zu sein, dich mit dem Wind zu bewegen, so dass du nie stürzt, und wie der große, weiße Kranich zu fliegen, so dass du nie gefangen wirst.«
Sie wanderten durch ein Labyrinth aus Mimosenbüschen, das sich zu einem langen und geraden Felsplateau hin öffnete, das wie ein Altar dem endlosen Himmel ausgesetzt war.
Der Alte To beugte sich hinunter, ergriff Siu-Sings Hände und blickte ihr eindringlich in die Augen. In seinen Worten schwang etwas mit, das sie noch nie gehört hatte. Das war nicht länger die Stimme ihres Yeh-Yehs, sondern die Stimme ihres Meisters.
»Dieser Felsen ist so alt und stark wie die Erde selbst. Er steht hier seit Anbeginn der Zeit, und weder Unwetter noch Sturm können ihn bewegen.« Er nahm auf der Mitte des Felsplateaus Platz, wo es durch Abnutzung so glatt wie ein Tempelboden war.
»Das ist jetzt kein Kinderspielplatz mehr, sondern ein Ort, an dem ein Schüler trainiert. Hier wirst du Dinge entdecken, die für andere unvorstellbar sind. Auf dem Felsen großer Stärke wirst du Wurzeln schlagen, die von keiner anderen Kraft als der eigenen bewegt werden können … und wenn du diesen Ort verlässt, wird
sein Chi mit dir gehen. Von nun an bin ich dein Meister. Du wirst mich si-fu nennen. Du bist jetzt nicht mehr mein Kleiner Stern, sondern Roter Lotus - Schülerin des Weißen Kranichs. Das ist dein Tempelname, und auf dem Felsen hast du auch keinen anderen. Es ist der Ort, wo man bis auf den Wunsch zu lernen alle Dinge hinter sich lässt.«
So begann die Ausbildung von Roter Lotus auf dem Felsen großer Stärke. Jeden Tag vor Sonnenaufgang begegnete sie auf seiner Mitte ihrem Meister, um unter einem verblassenden Mond die Kunst der Stille zu entdecken - lernte, wie man die Luft wie Wasser von einer kristallklaren Quelle dann trank, wenn sie am saubersten und frischesten war, und wie man sie mit der richtigen Atemtechnik in Kraft umwandelte.
Mit dem ersten vollen Sonnenlicht begann ihr körperliches Training. Beim chen-tow - dem Tanz des Kranichs - gab es viele verschiedene Bewegungen. Geduldig auf der Suche nach Perfektion leitete Meister To ihre Glieder so, wie ein Maler eine Farbe nach der anderen aufträgt oder wie ein Kalligraph einen unendlich feinen Strich in einen kräftigen
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