Die Tochter der Konkubine
Beerenbüschen Obst - und Nussbäume angepflanzt - Pflaumen-, Aprikosen-, Granatapfel-, Mandarinen-, Walnuss - und Mandelbäume. Am prächtigsten war der alte Birnbaum, der allein neben der Hütte stand und dem Eingang Schatten spendete. »Dieser Baum«, hatte der alte To seiner Cousine erklärt, »ist so alt wie die Berge. Über alle wichtigen Dinge wird in seinem Schatten entschieden.«
Daneben waren ein robuster Holztisch und Bänke aufgestellt worden. Hier nun begann Sing zuzuhören und zu lernen, zu fragen und Antworten zu bekommen, zu sprechen und angehört zu werden.
Obwohl sie noch nicht alles verstand, was Yeh-Yeh und Paw-Paw - diese Namen hatte sie für Fisch und den alten To gelernt - zueinander sagten, merkte sie instinktiv, wenn über sie gesprochen wurde. So auch an diesem Tag.
»Ich habe lang und gründlich über Siu-Sings Zukunft nachgedacht«, sagte der alte To. »Wenn du damit einverstanden bist, wird sie meine Schülerin, die letzte meines Lebens. Ich werde sie im Stil des weißen Kranichs unterweisen.«
»Ich kenne mich in diesen Dingen nicht so aus wie du«, antwortete Fisch, die gerade mit einer Näharbeit beschäftigt war, »aber ich habe gehört, dass der Stil des weißen Kranichs die Kunst der leeren Hand ist, eine Kunst, die für Töchter aus edlen Familien, die von Entführern und Banditen bedroht werden, erfunden wurde. In meinen Augen ist das Kind von edler Abstammung, und ich würde gern mehr darüber erfahren.«
Der alte To nickte. Als er weitersprach, wählte er seine Worte so sorgfältig, als würde er Früchte für einen Altar aussuchen, ein perfektes Stück nach dem anderen. »Siu-Sing wird zu einer Frau heranwachsen und schließlich in einer von Männern geprägten Welt leben. Männer können grausam und hinterhältig sein. Noch dazu fließt in Siu-Sings Adern gemischtes Blut. Was sie in ihrem Leben vollbringen mag, wie rein ihr Herz, wie strahlend ihr Geist und wie mutig ihre Taten auch sein werden, leicht wird sie es nicht haben.«
Mit etwas betrübter Miene blickte er über den See. »Cousine, wir sind nicht mehr jung. Vielleicht wird es einem von uns vergönnt sein, sie wieder sicher zurück im väterlichen Haus zu wissen … vielleicht muss sie diese Reise aber auch allein antreten. Die Geheimnisse des weißen Kranichs können ihren Körper, ihren Verstand und ihren Geist stärken. Sie können sie vor jeder Hand, die sich gegen sie erhebt, beschützen.«
Fisch war hin - und hergerissen. »Ihre Mutter, deren Leben von der Habgier anderer zerstört wurde, hatte ein mutiges Herz, konnte sich aber dennoch nicht verteidigen. Li würde es begrüßen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die das Überleben der Tochter
sichert. Aber ich habe ihr auch mein Versprechen gegeben, dass ihre Tochter lesen, schreiben und rechnen lernen wird. Solange ich das nicht erfüllt habe, kann ich meinen Göttern nicht gegenübertreten.«
Der alte To lächelte. »All das wird sie lernen, und auch, wie man den Pinsel beherrscht.« Mit einem unsichtbaren Pinsel zeichnete er einen Halbkreis in die Luft, um den gleitenden Schwung der Kalligraphie zu imitieren, dann tat er so, als führe er einen Bogen über ein Saiteninstrument. »Ich werde ihr sogar beibringen, das Lied der Silbernachtigall auf der er-hu zu spielen, ganz so, wie man es eine Prinzessin lehren würde. Wir werden sie gemeinsam auf die Welt jenseits der Berge vorbereiten.«
»Ich danke dir«, sagte Fisch leise. »Ich werde ihr zur Seite stehen, solange ich kann. Wann geht es los?«
»Heute«, antwortete ihr Cousin, »am Neujahrsabend. Dies ist ihr dritter Geburtstag - der wichtigste Tag ihres Lebens, wo sich ihre Seele in den Körper begibt und sie im Haus ihrer Vorfahren als Mensch betrachtet wird. Der Zeitpunkt ist ideal, um zu beginnen. Ihre Glieder sind jetzt so beweglich wie Blumenstiele und ihr Schritt federleicht.«
Er lachte leise über die Schönheit seiner Worte, dann wandte er sich Siu-Sing zu und umfasste ihr Gesicht mit seinen warmen Händen. Sie spürte die Zuneigung in seiner Berührung, deren kraftvolle Hitze ihr Herz erreichte. »Ihr Gemüt finde ich am kostbarsten. Sie ist offen für alles Frische und Neue, sucht überall nach neuen Wundern. Diese Begabung muss ein wahrer Schüler besitzen.«
»Wie viele Jahre lang wird sie lernen; wie oft und wie hart muss sie üben?«, fragte Fisch besorgt.
»Sie wird das Fliegen lernen, so wie ein flügger Vogel seine Flügel entdeckt. Zuerst einmal werde ich sie täglich zum
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