Die Tochter der Konkubine
umwandelt.
Wenn sie müde war oder stolperte, sagte Meister To ruhig: »Eine sanfte Art der Selbstverteidigung gibt es nicht. Der Felsen ist hart, aber das sind Ungerechtigkeit und Grausamkeit auch, und auf diese Dinge musst du vorbereitet sein. Um friedlich zu sein, müssen wir stark sein - jede Hand ein Schwert und jeder Finger ein Dolch. Der Arm ist ein Speer und der Ellbogen ein Hammer, der Fuß eine Axt und das Knie ein Rammbock.«
Als seine Schülerin ihn verwirrt ansah, erzählte er ihr die Geschichte des weißen Kranichs, der niemandem Böses wollte. »Der Kranich war zufrieden damit, ein ruhiges Leben im Sumpf zu führen, sein Nest in den Binsen zu bauen und seine Flügel auf der Sandbank zu trocknen. Aber der Tiger suchte den Kranich in den Schilfbänken heim und versuchte, ihn zu zerstören. Der Kranich war vorbereitet und besiegte ihn durch die Stärke seiner Schwingen,
den Stahl seiner Füße und die Klinge seines Schnabels. So wird es immer sein. Der Kranich muss unablässig auf der Hut sein.«
Wenn sie hinfiel und blutete, dann zeigte er ihr, wie man ebenso schnell wieder aufstand, wie man hingefallen war. »Wenn du das harte Felsgestein nicht magst, dann musst du lernen, nicht zu fallen. Wenn du fallen musst, dann musst du lernen, im Handumdrehen wieder auf den Füßen zu stehen. Du musst immer schneller sein als der Fuß oder die Faust deines Gegners. Wenn dir der Anblick und der Geschmack von Blut nicht gefällt, dann musst du versuchen, keines zu vergießen. Wenn du keine Schmerzen magst, musst du lernen, sie zu überwinden.
Gewalt kommt bei jedem Wetter. Sie wartet nicht darauf, dass es genehm ist, und sie kommt vielleicht ohne Vorwarnung. Sie schlägt im Eis zu oder im Feuer, in einer Überschwemmung oder Dürre, in warmem Sonnenschein oder einer sanften Brise. Du musst all ihre Gesichter kennen, all ihre Launen verstehen und mit all ihren Tricks vertraut sein. Du musst dich an die Lektion des Bachs erinnern: Die Steine sind hart und schwer, aber das Wasser bewegt sie. Wenn es sie nicht mit seiner Kraft bewegen kann, dann zermürbt es sie mit seiner Geduld. Diese Lektion bleibt immer gleich. Auf diesem Felsen bist du eins mit dem Wasser. Dein Chi ist mit dem Felsen verwurzelt. Deine Macht besteht in dem ständig fließenden Fluss deiner Lebenskraft.«
21. KAPITEL
Yan-jing-shi
Es war Siu-Sings achter Geburtstag. Erfrischt von ihren morgendlichen Übungen auf dem Felsen, nahm sie am Ort klaren Wassers ein Bad. Sie stellte sich nackt unter den Wasserfall, schloss die Augen und genoss das eiskalte Wasser, das ihr auf den Kopf und die Schultern prasselte. Als sie von dem herabstürzenden Wasser genug hatte, ließ sie sich in den Teich gleiten, wo sie mit ihren Schwimmzügen Wasserhyazinthen auseinandertrieb und Libellen mit unsichtbaren Flügeln umherschwirrten.
Sie sah Ah-Keung nicht, der hinter einem Gitterwerk aus Bambus am Rand der Lichtung stand.
Er beobachtete, wie sie mit glänzendem Körper aus dem Wasser stieg. Sie setzte sich an den Jadetisch, auf dem die er-hu bereits auf sie wartete.
Sie nahm den Bogen und ließ das Lied der silbernen Nachtigall erklingen. Sie war so versunken in seine Lieblichkeit, dass sie Ah-Keung nicht bemerkte.
Erst als sie ihr Spiel beendete, merkte Siu-Sing, dass sie beobachtet wurde. Zuerst dachte sie, es sei ein Schwarzbär oder ein Panda, der sich vor die Sonne schob und die fedrigen Spitzen des Bambus nach vorwitzigen Affen absuchte. Als plötzlich Sonnenlicht aufblitzte, musste Siu-Sing blinzeln, und sie schirmte die Augen mit der Hand ab. Ah-Keung hatte sich nicht bewegt, klatschte aber sacht in die Hände.
»Wie ich sehe, hast du dir die Saiten der selbstgebauten Fiedel des Meisters untertan gemacht - und du hast den Tanz des weißen Kranichs erlernt. Ich habe dir auf dem Felsen zugeschaut. Der si-fu
hat dir beigebracht zu fliegen - aber hat er dich auch zu kämpfen gelehrt?«
Ah-Keung trat auf die Lichtung. Sie wusste nicht, wie viele Monate sie ihn nicht gesehen hatte. Ein jüngerer Junge aus dem Schilfschneiderlager hatte seinen Platz als Ziegenhirt eingenommen - ein Junge, der Angst vor ihr hatte und die Ziegen eilig an der Hütte vorbeitrieb. Ah-Keung war größer geworden, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er trug eine saubere blaue Baumwollhose und eine dazu passende Jacke, die er sich über die Schulter geworfen hatte - schicke Sachen, die er sich auf einem Markt in der Stadt gekauft hatte, anstatt der zerschlissenen Lumpen, die er sich
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