Die Tochter der Konkubine
Einsamkeit des Seenlandes so allein und hilflos gefühlt. Ah-Keung rief ihr über das Deck zu: »Warum versteckst du dich da oben? Komm und schau dir die Welt jenseits der Berge an!«
Ah-Keung schulterte sein Bündel und schickte sich an, den schmalen Landungssteg hinunterzuschreiten. Siu-Sing befestigte das Tragetuch, schlang sich die er-hu wie ein Schwert über den Rücken und hastete ihm hinterher, wobei sie von unzähligen feindseligen Menschen angerempelt und verflucht wurde. Nie hätte sie sich so etwas vorstellen können.
»Das ist die wunderbare Stadt Macao, in der alles möglich ist.« Er drehte sich zu ihr um, und in seinen Augen glomm ein neuer Eifer, so wie bei einem, der den Hunger kennengelernt hat und nun bald ein Festmahl genießen wird.
»Sie wird die Stadt der gebrochenen Versprechen genannt. Hier hält sich der reiche gwai-lo seine Mätresse und segelt dann davon und lässt sie mit gebrochenem Herzen zurück. Hierher kommen die Taipans, um Würfel zu spielen und Pfeife zu rauchen. Für hübsche Mädchen zahlen die gut.«
Bei dem Gedanken daran kicherte er, beruhigte sie jedoch rasch, als sie nichts sagte.
»Der Goldene Hügel liegt nahe der anderen Uferseite. Ich werde hingehen und herausfinden, was ich kann. Dann komme ich zurück und bringe dich an die Tür deines Vaters.«
»Ich muss dich begleiten …«, begann sie.
»Nein. Ich habe hier einen sicheren Platz für dich gefunden. Am Goldenen Hügel kommen wir nirgends unter. Ich gehe vor und hole dich dann nach.« Und damit war das Thema für ihn erledigt.
Sie bahnten sich ihren Weg durch die Lagerhäuser und ließen den Lärm und Gestank des Hafenviertels rasch hinter sich. Es ging mit Kopfstein gepflasterte Straßen und schmale Gassen entlang, an Sägemühlen und Eisenwarenhandlungen, an Fleisch - und Fischhändlern, Sargherstellern und Tempeln vorbei. Straßenhändler boten ihre Waren feil, und Bettler murmelten ihnen etwas zu. Sie marschierten rund eine halbe Meile.
Vor hohen mit scharfen Eisenspitzen versehenen Toren blieb Ah-Keung stehen. Der Gezeitengeruch des Hafenviertels war dem
Gestank eines Schlachthauses gewichen. Hinter hohen Mauern war schreckliches Quieken zu hören. Ziegelsteine, so alt und vernarbt, dass aus jeder Ritze Unkraut spross, waren mit Glasscherben bestreut. Über den Toren, in einem verbogenen Bogen aus gehämmertem Stahl, stand in großen, rot bemalten Schriftzeichen zu lesen: DOPPELTES GLÜCK.
Ah-Keung zog fest an dem Eisenring, der in die Wand eingelassen war, worauf drinnen Kettenquietschen und das rostige Krächzen einer Glocke zu hören waren. »Das ist das Haus des Doppelten Glücks, der Palast von Fan-Lu-Wei, der einst ein Mandarin neunten Grades mit rotem Knopf war«, erklärte er ehrfurchtsvoll. »Ein äußerst bedeutender und sehr reicher Mann hier in Macao. Wir haben Glück, dass er dir helfen will.«
In einem Schlitz im Tor erschien ein gerötetes Auge, das aussah wie ein Fisch, der in einer Schüssel schwamm. Eine vor Argwohn schrille Stimme fragte nach ihrem Anliegen. Ah-Keung rief seinen Namen und legte beschützend einen Arm um Siu-Sing, als Riegel aufgeschoben wurden und eines der Tore ein Stück weit geöffnet wurde.
»Keine Bange, Kleiner Stern«, flüsterte er hastig. »Hier bekommst du guten Reis und einen Platz zum Schlafen. Verhalte dich respektvoll gegenüber Herrn Fo. Vergiss nicht, dich zu verbeugen, dann wirst du gut behandelt.«
»Wird er mir helfen, meinen Vater zu finden?«
»Ja, ja, Herr Fo ist überall bekannt. Falls es deinen Barbarenvater wirklich gibt, wird er davon wissen.«
Er bedeutete ihr, durch das halb geöffnete Tor zu treten. »Hab Geduld, Kleiner Stern. Hier bist du in Sicherheit. Ich werde immer wissen, wo du bist, und wenn dein reicher Vater erst gefunden ist, komme ich und hole mir meine Belohnung.«
Das Tor schloss sich mit einem hallenden Donnern, so dass Siu-Sing ohne Ah-Keung an ihrer Seite drinnen in der Falle saß. Sie hörte sein Gelächter, und die Röte stieg ihr ins Gesicht. Wie leicht es doch gewesen war, sie hereinzulegen.
25. KAPITEL
Das Haus des Doppelten Glücks
Siu-Sing stand vor einem großen, mit Kopfsteinen gepflasterten Hof, an den sich eine Reihe von Schuppen mit niedrigen Dächern anschloss. Pferche mit schlammverkrusteten Schweinen zwängten sich an hohe Mauern, von denen das Quieken widerhallte. Eine Hecke aus blühenden Büschen trennte einen Garten vom Rest des Anwesens ab. Er umgab ein großes Haus, das mit seinen morschen
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