Die Tochter der Konkubine
unserer Siebten Schwester, der Mondfrau. Deine Mutter war wirklich eine Gelehrte. Es finden sich viele Notizen darüber, woran sie glaubte. Die Bilder, die sie eigenhändig geschaffen hat, zeugen von Größe und Weisheit.«
Kiesel blickte von dem aufgeschlagenen Buch zu Li-Xias besorgtem Gesicht empor. »Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, dass du in deinem Herzen solch eine Mutter mit dir trägst, wohin auch immer du gehst, und dass du weißt, dass sie dich im Jenseits erwartet, was immer auch geschieht.«
Von diesem Augenblick an begann Li-Xia die Worte zu lesen, die von Pai-Lings Gedanken erzählten. Jedes neu erlernte Schriftzeichen war ein weiterer Schritt entlang eines versprochenen Weges. Kleiner Kiesel war eine geduldige Lehrerin und erpicht darauf, die Mondgeschichten mit ihr zu teilen. Eine Geschichte wurde sie nicht müde zu lesen, während Li-Xia mit der Fingerspitze sorgfältig jedes Wort nachfuhr, und zwar die Geschichte von Heng-O und Hou-Yih:
Vor sehr langer Zeit, als die Magie noch allgegenwärtig war und Wunder so zahlreich wie die Sterne am Himmel waren, lebte eine taoistische Prinzessin, die so strahlend schön war, dass kein gewöhnlicher Mann sie ansehen konnte, ohne das Risiko einzugehen zu erblinden, und aus diesem Grund flog sie allein umher, mit nichts weiter geschmückt als Wolken. Heng-O war ihr Name.
Es gab einen jungen Zauberer, der von Geburt aus mit großer Macht ausgestattet war. Er hieß Hou-Yih, und er hatte durch Zaubersprüche und Alchemie und dadurch, dass er nur Blumennektar aß, Unsterblichkeit erlangt. Deshalb war er dazu verdammt, mit einem verzauberten Bogen und einem einzigen Silberpfeil auf den Nebenpfaden der Luft zu wandeln. Ein Schuss mit diesem goldenen Bogen würde demjenigen,
der ihn traf, ewiges Leben schenken und seiner Einsamkeit ein Ende machen. Sein Wunsch nach einer Gefährtin führte ihn auf eine endlose Suche durch alle Ebenen des Universums.
Eines Tages traf er inmitten eines Regenbogens auf eine schillernde Wolke und spannte, da er sie für die Flügel des Phönix hielt, seinen Bogen und schoss den Pfeil ab. Aus der hauchzarten Wolkenhülle fiel Heng-O; denn der Silberpfeil hatte ihr Herz durchbohrt, und er fing sie in seinen Armen auf. Der Zauberpfeil wurde herausgezogen, und sie verliebten sich unsterblich ineinander. Nicht einmal die, die sich das Paradies teilten, hatten je solch ein Glück gekannt, doch ein Sturm kam auf und trennte sie. Heng-O fand Zuflucht auf dem Mond, während Hou-Yih zur glühend heißen Sonne getrieben wurde.
Dort sind sie für immer als Yin, die Mondfrau, und Yang, der Herr der Sonne, geblieben - unsterbliche Herrscher des Universums und seines kosmischen Gleichgewichts. Einmal im Monat treffen sie sich zwischen den Sternen und lieben sich. Aus diesem Grund leuchtet der Vollmond mit solcher Helligkeit und strahlt nie mehr als im Herbst des zwölften Mondes.
»Siehst du?«, sagte Kiesel. »Männer sind Kinder der Sonne, blendend, brennend und stets ruhelos - ihre heranreifenden Samen bringt sie schier zum Platzen. Sie vergießen sie wie ein Fluss, ohne sich darum zu kümmern, wohin sie fließen. Sie denken nicht, dass es je versiegen könnte, und wenn es dann geschieht, weinen sie Tränen aus Stein. Frauen jedoch sind Kinder des Mondes … wir sind aus sanftem Schatten und fahlem Licht gemacht - kühl, geduldig, beständig. Wir sind verschieden, aber der eine braucht den anderen zum Ausgleich im Zentrum der acht Trigramme … das Yin und Yang.«
Als die Geschichte erzählt war, lag Li-Xia still da und hoffte, das
glitzernde Bild werde nicht zu schnell verblassen. Sie nahm den Jade-Handschmeichler aus seinem Versteck, hielt ihn sich an die Lippen und sprach ein Gebet. Die Finger fest darum geklammert, dankte sie ihrer Mutter, dass sie ihr Kleiner Kiesel gesandt hatte, die ihr das Lesen beibrachte.
Für die mui-mui war das Mittelherbstfest ein besonderer Tag, doch für Li-Xia fortan ein ganz besonderer, da sie wusste, dass es der Geburtstag von Heng-O war, der Mondfrau, die ihren Silbermantel ausbreitete, um alle ihre Schwestern im Himmel und auf Erden zu trösten. Auch nach tausend Jahren blieb das Mondkuchenrezept unverändert, jeder Kuchen enthielt das feste Eigelb eines gesalzenen Eis, das den Vollmond darstellte. In angezündetem Zustand glich auch jede runde Laterne einem gelben Augustmond. Für Li-Xia war es eine verheißungsvolle Zeit. Heng-O war nicht blind, taub und stumm wie die Holzgottheiten aus dem
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