Die Tochter der Konkubine
Jahre vergingen, ohne dass die Zeit eine Rolle spielte. Li-Xia füllte ihre Körbe so schnell und häufig wie jede andere mui-mui auch, und wenn die Jahreszeiten wechselten, arbeitete sie in den Schuppen, breitete mit flinken und gewandten Fingern die Larven auf den Binsenmattentabletts aus. Wenn die Seidenraupen brüteten, fütterte sie sie zehnmal am Tag mit Maulbeerbaumblättern aus den Körben, die Riese Yun geholt hatte.
Die frische Luft und die Kameradschaft in den Maulbeerhainen
erfüllten sie mit großer Zufriedenheit - das Geplauder der mung-cha-cha zwischen den Bäumen, Kiesels Schelten, wenn die Finger nicht flogen und die Körbe nicht schnell genug gefüllt wurden.
Es kam ein Tag, da machte der klare Himmel einer turmhohen Gewitterwolke Platz, die die Sonne herausforderte. Ein Platzregen ging hernieder, gerade einmal eine Viertelstunde, dennoch wurde jeder Baum durchtränkt und jeder Kokon glitzerte wie ein Diamant. Als die Sonne durchbrach, warm und frisch, wie das nur an einem Herbstnachmittag der Fall sein kann, schüttelten die mui-mui die Zweige, so dass die Diamanten zu Boden fielen. Mit nassen Kokons ließ sich schwer arbeiten, und so legten sie eine halbe Stunde Pause ein, damit sie trocknen konnten.
Kiesel führte Li-Xia durch die glitzernden Haine zu einem alten Baum, der - größer und schattenspendender als alle anderen - allein auf dem Gipfel des Hügels stand und dessen knorrige Wurzeln dicht mit Moos bewachsen waren. Wie Adern auf dem Handrücken einer Hexe , dachte Li-Xia, als sie sich ihm näherten.
»Er wird Geisterbaum genannt«, erzählte Kiesel ihr. »Es gab da ein Mädchen, dessen mui-mui -Name Mentzelie lautete, weil sie so klein und hübsch wie die winzige Blume war.« Kiesels Stimme war von einer Traurigkeit, die Li-Xia bei ihr noch nie zuvor gehört hatte. »Sie war nicht kräftig genug und konnte nicht furchtlos die Leiter hinaufklettern. Ich versuchte ihr zu helfen, doch sie wurde krank und vermochte ihre Körbe nicht zu füllen. Ah-Jeh schlug sie, bis sie blutete.« Kiesel hielt inne und sah fort, damit man ihre Tränen nicht sah. »Nachts konnte sie nicht schlafen und ließ ihre Lampe brennen … sie verbrachte ihre Zeit damit, Schilfgras zu flechten. Wir wussten nicht, dass sie an einem Seil arbeitete. Als es lang und stark genug war, hängte sie sich an diesem Baum auf. Aus diesem Grund trage ich ihre Blumen im Haar - damit ich sie nicht vergesse. Ich war ihre Vorarbeiterin. Ich hätte das Seil sehen müssen. Ich hätte sie retten müssen.«
Kiesel versuchte zu lächeln. »Fällt dir an diesem Baum etwas auf?«
Li-Xia starrte in das weit verzweigte Geäst. »Er ist sehr alt und sehr schön … Er kommt mir so alt und kräftig vor wie ein Felsen«, erwiderte sie und teilte ein wenig von Kiesels Traurigkeit.
»Es hängen keine Kokons daran. Seit ihrem Tod hat sich keine Motte mehr in diesem Baum niedergelassen und keine Seidenraupe mehr ihren Kokon gesponnen.« Noch immer ein wenig traurig, lächelte Kiesel erneut. »Selbst die Finken und Eichhörnchen bauen sich hier kein Nest mehr.«
Sie wischte sich die Tränen fort und grinste. »Die mui-mui fürchten sich vor diesem Baum. Sie glauben, er beherberge Mentzelies Seele und die Seelen anderer, die in diesen Hügeln ums Leben gekommen sind. Hier hänge ich oft meinen Gedanken nach und spreche mit jedem Gott, der zuhört.«
Kiesel klang tieftraurig. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die gefurchte Baumrinde.
»Dieser Baum weiß, dass ich eigentlich Tänzerin hätte werden sollen. Seine Äste tragen die Geheimnisse der Zeit in sich. Seine Blätter sind zerplatzte Träume, aber er lebt noch, wie das Herz eines weisen alten Mannes, der die Hand eines Kindes hält, das verloren ist. Bis jetzt habe ich seinen Zauber mit niemandem geteilt. Unter diesem Baum kann es zwischen uns keine Geheimnisse geben.«
Kiesel rieb das Moos fort. Zwei perfekt hineingeritzte Schriftzeichen kamen zum Vorschein. »Siehst du, das Zeichen für Kleiner Kiesel und Mentzelie. Ich habe es vor einem Dutzend Jahren hineingeritzt. Daneben werde ich den Namen Holzapfel schreiben.« Sie zog ein Messer aus ihrem Haar und fing an, sorgfältig jeden Strich und jede Kurve hineinzuritzen.
»Du kannst meinen Namen schreiben?«, fragte Li-Xia erstaunt.
Kiesel legte mit übertriebener Vorsicht einen Finger an die Lippen. »Ich kann auch lesen, aber erzähl es nicht weiter, sonst kommt mich das teuer zu stehen.« Es war Li-Xia, als sähe sie ihre Freundin,
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