Die Tochter der Konkubine
die Vorsteherin, zum ersten Mal.
Kiesel vollendete das Schriftzeichen, strich die Späne beiseite, trat zurück und bedeutete Li-Xia, ihr Werk zu begutachten.
»Da, bitte - Kiesel, Mentzelie und Holzapfel. Kein noch so heftiger Sturm wird uns trennen können. Dieser Geisterbaum wird nie eingehen.« Sie holte tief Luft und streckte die Arme zu dem Laubhimmel über ihnen aus. »Hier können wir sein, was immer wir sein wollen. Manchmal bin ich eine Kaiserin … das weiß niemand außer mir, also kann auch keiner das Gegenteil behaupten. An anderen Tagen bin ich der Star der bedeutendsten Oper auf der großen Bühne in Peking und besitze eine göttinnengleiche Stimme … außer diesem Baum hört mich niemand singen.«
Sie verbeugte sich vor Li-Xia und schwang ihren Hut. »Und, mein kleiner Holzapfel, was bist du im tiefsten Inneren deines Herzens?« Li-Xia antwortete, ohne zu zögern: »Ich wurde geboren, um eine Gelehrte zu sein und ein großes Zimmer voller Schriftrollen, Papiere und Bücher zu besitzen … deren Inhalte ich allesamt verstehe und andere lehre.« Kiesel nickte und setzte sich, lehnte sich an den Baum und streckte die Beine zum sonnenbeschienenen Tal aus, das sich vor ihnen ausbreitete wie ein wattierter Quilt mit Stoffstücken in Grün, Gelb und allen Schattierungen von Braun und dem silbernen Glanz des sich durch das Tal windenden Flusses. Die Erde wirkte wie reingewaschen, und von Weitem wurde der Ackergeruch hergetragen.
»Hier drin sind wir dieselben.« Kiesel legte sich die Hand aufs Herz. »Wir hatten niemanden außer unseren eigenen Schatten. Nun haben wir einander.« Sie griff nach der Kürbisflasche mit Wasser und trank mit tiefen Zügen. Dann reichte sie sie Li-Xia mit einem zufriedenen Seufzer. »Siehst du, wie reich wir sind, Holzapfel? Uns liegt ganz China zu Füßen, und der große Perlfluss ist unser Freund.«
An diesem Abend zeigte Li-Xia Kleinem Kiesel ihr wertvolles Buch. Es war das letzte Geheimnis, das nur ihrem Herzen bekannt war. In alle anderen hatte sie Kiesel bereits eingeweiht, und sie waren bei ihr gut aufgehoben.
»In diesem Narrenpalast bin ich die Einzige, die lesen kann«, flüsterte Kiesel mit einem seltenen Lächeln des Entzückens. »Lass
Ah-Jeh dein Buch nicht sehen, sonst wirft sie es in die Grube und gerbt dir das Fell. Zum Bücherlesen sind wir zu dumm. So lautet das Gesetz.« Kiesels Gesicht verzog sich schmerzlich, und sie sprach ohne ihr schiefes Grinsen weiter. »Ich habe zu lesen gelernt, aber ich habe dafür bezahlen müssen. Ehe ich hierher kam, lebte ich bei einem alten Mann, der behauptete, mein Onkel zu sein. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, aber es spielt auch keine Rolle. Ich fegte seinen Raum, brachte ihm seinen Tee und bereitete ihm seine Suppe.« Kiesel runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Er war nicht so alt, dass er mich nicht in seinem Bett haben wollte, aber er brachte mir das Lesen bei. Das hielt ich für ein gutes Geschäft. Aber dann wurde er meiner überdrüssig und verkaufte mich an Ming-Chou, weil er Opium brauchte.«
Kiesel rollte sich auf eine Seite ihrer Liege, hob die Kante der Schlafmatte und zeigte ihr, dass sie mit alten Zeitungen unterlegt war. »Siehst du? Die habe ich alle tausendmal gelesen. Es gibt nichts, was ich über die Welt nicht weiß. Wovon handelt dein Buch?«
Aufgeregt, dass ihre Freundin lesen konnte, und beschämt, dass sie es nicht konnte, zögerte Li-Xia. »Es handelt vom Mond … von allem über den Mond.«
»Was sagt es dir über den Mond? Das ist ein sehr großes Thema - der Mond hat viele Gesichter.«
Unerwartete Tränen ließen Li-Xia zwinkern. »Ich kann die Wörter nicht richtig lesen … aber ich glaube, ich weiß, was sie sagen.«
Kiesel lachte sie nicht aus. »Manchmal ist das die beste Art zu lesen - es nennt sich Fantasie, die Seide, aus der unsere Träume gewebt sind. Weil die Worte von jemand anderem geschrieben wurden und nicht immer das sagen, was wir uns wünschen, geben sie uns einen Anlass nachzudenken«, erklärte sie weise. »Lass mich einen Blick in dein geheimes Buch werfen, und vielleicht bringe ich dir bei, es so zu lesen, wie es geschrieben wurde.«
Auf diese Worte hatte Li-Xia länger gewartet, als sie denken konnte. Sie reichte das Buch Kiesel, die die Lampe näher heranzog und darin zu blättern begann.
»Du hast großes Glück, dass du dieses Buch gefunden hast. Es ist ein Almanach, der Mondkalender … mit all den magischen Geschichten von Heng-O,
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