Die Tochter der Konkubine
Meeresbrandung ans felsige Uferland schlagen. In dieser atemlosen Stille drehte sich der Türgriff langsam und sorgfältig, zuerst so herum, dann andersherum. Falls es Fisch war, würde sie bestimmt gleich klopfen und etwas sagen. Doch nichts war zu hören, und nach einem Augenblick, während Li ihr Herz pochen hörte, endete die Bewegung.
10. KAPITEL
Chinesisches Neujahr
Das chinesische Neujahr fiel nach dem westlichen Kalender auf Mitte Februar. Die drei Tage vor diesem feierlichen Ereignis waren als »Kleines Neujahr« bekannt, an dem Schulden beglichen werden mussten, damit das neue Jahr für Arm und Reich mit einem reinen Tisch beginnen konnte. Nach altem Brauch waren Komödianten und Straßenkünstler verpflichtet, auf dem Dorfplatz oder dem Tempelhof unentgeltlich aufzutreten, um böse Schuldner aus dem Publikum herauszuziehen. Ihre Gläubiger konnten sie dann zwingen, den ausstehenden Betrag zu begleichen oder aber die Missbilligung der Menge zu riskieren, indem sie die Show mit lauten Protesten verdarben. Schneider, Friseure, Schönheitsläden, Floristen und Geschenkeläden verdoppelten die Preise, um aus den fieberhaften Aktivitäten Kapital zu schlagen. Alte Rechnungen wurden beglichen, neue Kleidungsstücke gekauft, Schönheitsprozeduren in Gang gesetzt - es wurde gestutzt und tonsuriert, massiert, geklopft und bemalt -, alles, um so strahlend und glänzend wie eine neu geprägte Münze daraus hervorzugehen.
Diejenigen, die es besaßen, trugen Gold, um ihren Reichtum und Erfolg zu demonstrieren, kleideten ihre Kinder in Zinnoberrot, der Farbe des Glücks, um sie dann mit Gesichtern, die wie wertvolle Puppen bemalt waren, Verwandten und Freunden vorzuführen. Jedem Kind wurden von Mitgliedern seiner erweiterten Familie Glücksgeld in einem versiegelten rotgoldenen Päckchen geschenkt, während Erwachsene untereinander Geschenke austauschten - Seidenstoffe und Ziergegenstände, für enge und wichtige Verwandte sogar Schmuck; feine Teesorten, seltene Früchte
und teure Nahrungsmittel, Topfpflanzen und Blumen für ferne und weniger wichtige Tanten, Onkel und Cousins und Cousinen.
Das Haus, ganz gleich wie prächtig oder bescheiden es sein mochte, wurde sorgfältig ausgefegt, Metallgegenstände wurden gereinigt und poliert, Teppiche geklopft und Vorhänge gewaschen. Das Haus und seine Bewohner mussten tipptopp sein, so dass die Feng-Shui-Kräfte von Wind und Wasser ungehindert fließen konnten und der Drache im Norden sich friedlich mit dem Tiger des Südens hinlegen konnte. Boni wurden zum Jahresende ausgezahlt und Gehälter verdoppelt, um diesen Monat des zwölften Mondes bestreiten zu können. Man verließ Städtchen und Städte und reiste in den huang-hah , den Geburtsort und die spirituelle Heimat der Sippe.
Nun, so beschloss Li, war die Zeit gekommen, ihre Schulden bei Ben Devereaux zu begleichen und im Buch ihres Lebens eine neue Seite aufzuschlagen. In Fischs Begleitung hatte sie sich in die aufgeregten Menschenmengen gestürzt, während Feuerwerkskörper aufleuchteten und Trommeln geschlagen wurden, während Löwen und Drachen durch Häuser und Straßen paradierten, das Alte vertrieben und das Neue willkommen hießen.
Nun, da das »Kleine Neujahr« vorüber, die Straßen menschenleer und alle Türen für Familientreffen weit offen standen, lud Fisch sie ein, ihre Tanka-Freunde zu besuchen. Als Li mit innigen Dankesworten ablehnte, bot die alte Dame an, im Sky House zu bleiben und ihr Gesellschaft zu leisten. »Du wirst zu einer Zeit allein sein, da niemand allein sein sollte. Es ist eine Zeit, in der der Herr zu viel Rum trinkt … er wird dich zum chinesischen Neujahrsfest nicht im Haus haben wollen.«
»Aber vielleicht trinkt er ja zu viel Rum, weil er allein ist. Wie du ganz richtig gesagt hast … wenn das Neujahrsfest gefeiert wird, sollte niemand allein sein. Wenn er es wünscht, leiste ich ihm Gesellschaft.«
»Vielleicht hast du recht«, stimmte Fisch ihr unsicher zu. »Vielleicht kann sich sogar ein Taipan in solchen Zeiten einsam fühlen.«
Ben Devereaux hatte mehr chinesische Neujahrsfeste erlebt, als ihm lieb war, jedes einsamer und deprimierender als das vorige. Wenn die Bediensteten fort waren und im großen Haus Stille herrschte, fand er gewöhnlich Gesellschaft in den internationalen Clubs oder nahm sich eine Suite im Palm Garden und besuchte die Bars von Wan Chai auf Hongkong Island … um eine Woche darauf im reizlosen Bett einer Fremden zu erwachen. Wieso , fragte er sich
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