Die Tochter der Konkubine
jemand so Jungem ein Lächeln nicht verkneifen. »Wenn du unbedingt Bücher willst, dann sollst du welche haben.« Er deutete auf seine Buchsammlung. »Du musst diese Bücher erforschen, so oft du magst, und so viel entdecken, wie du nur kannst. Doch wenn das Buch wieder geschlossen ist, sieh dich um und finde eigene Geschichten.«
Sie verbeugte sich zum Dank und wäre gegangen, wäre ihm nicht unvermittelt bewusst geworden, wie leer dieser Raum, den er mit Absicht als Ort des Alleinseins gewählt hatte, ohne sie sein würde. Um sie zurückzuhalten, sagte er hastig und ohne nachzudenken: »Bleib doch! Ich möchte mich mit dir noch über andere Dinge unterhalten.«
Auf der Suche nach einer nicht allzu plumpen Ausrede bediente er sich der ersten, die ihm in den Sinn kam: zwei kleine Veränderungen, die in seinem Privatbereich vorgenommen worden waren, seitdem sie dafür die Verantwortung trug. »Hier standen immer Vasen mit meinen englischen Lieblingsblumen, die jeden Tag frisch im Garten geschnitten wurden. Hat Fisch dir das nicht gesagt?«
»Sie hat mich über alle wichtigen Dinge genauestens unterrichtet. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihnen Sorge bereitet habe, aber die Blumen sind durch die offenen Türen und Fenster so gut zu sehen, dass ich es nicht über mich gebracht habe, ihnen die Köpfe abzuschneiden, nur um sie langsam sterben zu sehen.«
Er deutete auf die hohen Vasen voller blühender Äste, die Sesam-, Föhren - und Zypressenzweige. »Und was ist dann mit denen
- wurden die nicht auch im Augenblick ihres Triumphes abgeschnitten?« In diesem Moment fühlte sie sich nicht länger wie eine Bedienstete vor ihrem Herrn, sondern gleichrangig. Es gefiel ihr, sich in einer Sache auszukennen, von der er nichts wusste. »Die Blüten des Pfirsich - und des Pflaumenbaums halten nicht lange. Ihr Leben ist kurz, doch bringen sie neues Wachstum und frische Blätter. Deshalb sind sie das Symbol des chinesischen Neujahrs.«
Ihre Antwort auf seine Frage schien ihn zu befriedigen, und er stellte sofort eine neue, wobei er auf den kleinen leeren Käfig über dem Balkon wies, dessen Tür offenstand. »In diesem Käfig war ein seltener Singvogel, eine Haubenlerche, die nur in den Bergen von Hunan vorkommt. Solch ein Vogel ist schwer zu finden und kostet eine Menge. Fünf Jahre lang hat er mich mit seiner Melodie geweckt. Nun ist er fort.«
»Ein in einem Käfig gehaltener Vogel, egal wie gewöhnlich oder selten, singt, weil er muss. Ein freier Vogel dagegen singt, wann er will. Der Gesang des freien Vogels ist immer süßer. Wecken die Vögel auf den Bäumen Sie nicht immer noch so süß wie jeder andere? In meinem Geburtsland heißt es, es gebe keinen süßeren Gesang als den eines Spatzen in einem Getreidefeld. Er singt, weil die Ernte golden ist, und doch hat der Spatz kein schönes Gefieder, und man achtet ihn nicht. Unter den Singvögeln hat er keinen Wert.« Li wartete, ob sie mit ihrer Erwiderung zu weit gegangen war, und setzte dann hinzu: »Aber das sind nur Gedanken, die mir wahr erscheinen und die ansonsten wertlos sind.«
Ben fragte Li nicht, ob die Lerche ihre Freiheit ihr verdankte. Er war ziemlich sicher, dass es sich so verhielt, wollte jedoch nicht, dass sie es zugab. Stattdessen zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und holte eine kleine längliche Schachtel mit Intarsien aus Elfenbein und Perlmutt hervor. Er hob eine schöne goldene Kette heraus.
»Deine Ansichten über derlei Dinge sind so weise wie die des unsterblichen Sau-Sing-Kung, des Ältesten aller großen Weisen, und so frisch wie die eines Kindes. Sie sind von größerem Wert, als du denkst.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir deine goldene Guinee.«
Hatte sie ihn doch verstimmt? Gehorsam ließ Li die Goldmünze in seine Hand fallen. »Diese Kette hat einst meiner Mutter gehört. Sie starb bei meiner Geburt, deshalb habe ich nur das Wort meines Vaters, dass sie ihr gehörte, aber auch er lebt inzwischen nicht mehr.« Mit seinen großen, überraschend feinfühligen Fingern brachte er die goldene Guinee an der Kette an. Er trat zu ihr und legte sie ihr um den Hals. »Das ist mein Neujahrsgeschenk für dich.«
Als er ihr die Münze um den Hals legte, war er sich ihrer Nähe derart bewusst, dass er einen Schritt zurücktreten musste. Li spürte den sich beschleunigenden Rhythmus ihres Herzens, während sie einen langen Augenblick reglos dastand und mit den Fingerspitzen die feinen Glieder der Kette zu dem massiven Gewicht der
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