Die Tochter Der Midgardschlange: Die Asgard-Saga
antwortete.
»Das Morden und Brandschatzen«, sagte sie. »Habt ihr ein Dorf in der Nähe entdeckt, das sich nicht wehren kann?«
Ansgar verdrehte schon wieder die Augen und seufzte leise, ersparte sich aber jede Antwort und riss ein weiteres Stück Hühnerfleisch von dem Knochen in seiner linken Hand. Katharina fiel auf, wie strahlend weiß und kräftig seine Zähne waren; und nicht nur das. Hätte er nicht diese albernen blonden Mädchen-Zöpfe gehabt, dann hätte er wirklich gut ausgesehen.
Gerade, als sie endgültig zu dem Schluss gekommen war, dass er ihre Frage anscheinend einfach ignorieren würde, antwortete er doch.
»Du kannst es einfach nicht lassen, wie?«
»Was?«, fragte nun Katharina.
»Was haben dir deine Eltern eigentlich über uns erzählt?«, fragte Ansgar kauend. »Lass mich raten: dass wir Ungeheuerund Dämonen sind, die über jeden herfallen, der sich nicht schnell genug versteckt, und nur vom Morden und Brandschatzen leben?«
»Meine Eltern haben mir gar nichts erzählt«, antwortete Katharina. »Sie sind tot.«
»Oh«, murmelte Ansgar. »Das tut mir leid.«
»Schon sehr lange«, fügte Katharina hinzu. »Ich kann mich nicht an sie erinnern.«
Ansgar legte fragend den Kopf auf die Seite, und Katharina beantwortete seine nächste Frage, bevor er sie überhaupt aussprechen konnte: »Ich bin bei guten Menschen in Ellsbusch aufgewachsen. Mal hier, mal da.« Die Wahrheit war eher, dass die guten Menschen von Ellsbusch sie mehr oder weniger herumgereicht hatten. Sie erinnerte sich natürlich nicht an die ersten Jahre ihres Lebens im Dorf, aber während der Jahre, an die sie sich erinnerte, hatte sie nie mehr als einige wenige Monate bei einer Familie zugebracht.
Seltsamerweise schmerzte die Erkenntnis, dass all diese Menschen, von denen gewiss nicht einer ihr Freund gewesen war, tot waren, trotzdem so sehr, als hätte sie ihre Familie verloren.
»Und?«, fragte Ansgar, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Ich weiß gar nichts von euch«, gestand sie widerwillig. »Außer dass die Menschen euch fürchten.«
Nicht einmal das entsprach ganz der Wahrheit, wenn sie ehrlich war. Sie hatte Geschichten gehört, finstere und erschreckende Geschichten von grausamen Kriegern aus dem Norden, die auf ihren schnellen Drachenbooten den Rhein herauffuhren und Angst und Schrecken verbreiteten, aber es waren eben nur Geschichten gewesen. Spannende Geschichten, bei denen einem das Herz in der Brust klopfte und ein wohliger Schauer über den Rücken lief, aber mehr eben auch nicht. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie wahr sein könnten.
Wenigstens nicht bis gestern.
»Ich verstehe«, seufzte Ansgar. Er sah nicht wirklich ärgerlich aus, fand Katharina. Eher ein bisschen traurig.
»Ach ja?«, fragte Katharina.»Und was verstehst du?«
»Dass die alten Geschichten, die man dir erzählt hat, wahr sind, und zugleich auch so falsch, wie es nur geht.« Er kaute genüsslich, wollte in seine Schale greifen und hielt sie dann stattdessen ihr hin. Katharina sah, dass noch zwei große Streifen knusprig gebratenes Hühnchen auf dem gedünsteten Gemüse lagen. Sowohl ihr Magen als auch ihr Stolz protestierten vehement dagegen … aber es war Fleisch, und ihr lief das Wasser so sehr im Mund zusammen, dass sie sich beherrschen musste, um nicht zu sabbern.
Sie warf Ansgar einen nichts anderes als verächtlichen Blick zu, streckte die Hand aus und nahm das Fleisch. Beide Stücke. Ansgar hob überrascht die Augenbrauen.
»Und wie sollte so etwas gehen?«, fragte sie mit vollem Mund kauend. »Dass etwas wahr ist, und zugleich auch wieder nicht?«
»Weil Menschen manchmal aus Fehlern lernen, Mädchen. Sogar Menschen aus eurem Volk. Oder unserem.«
Es war nicht Ansgar, der das sagte, sondern sein Großvater, der unbemerkt hinter ihnen das Zelt betreten hatte. Er sah sehr müde aus, und Katharina musste nicht fragen, um zu wissen, dass er seit mindestens einer Nacht kein Auge zugetan hatte. Aber er sprach das Deutsche auch sehr viel flüssiger als sein Enkel und gänzlich ohne dessen stockend-holprigen Akzent.
Ansgar sprang auf und begann in seiner harten Muttersprache auf ihn einzureden, und Erik schloss mit der linken Hand die Zeltplane hinter sich und brachte ihn mit einer herrischen Geste der anderen mitten im Satz zum Verstummen.
»Es ist unhöflich, in einer Sprache zu reden, die unser Gast nicht versteht, Ansgar«, sagte er. Mit Schritten, die zugleichkraftvoll wie auch unendlich müde wirkten, kam er
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