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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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hätten, hätt’s schlimmer ausgesehen. Meinen Glückwunsch, Frau Ime Hofe. Und alles Gute für den neuen Erdenbürger.«
    Murmelnd schlossen sich die anderen Männer seinen guten Wünschen an, dann verließen sie eiligst den Hof. Nur der Stallbursche der Wolkenburg blieb zurück.
    In dem Moment hastete Mertyn durch das Torhaus, den schwer atmenden Jost im Schlepp. »O mein Gott! Lisbeth!«, stieß er hervor, als er seiner Gemahlin ansichtig wurde, und ließ sich neben ihr auf die Knie nieder. »Was ist geschehen?«
    »Wir haben einen Sohn!« Lisbeth strahlte ihn an und hielt das Kind so, dass es seinem Vater das winzige Gesichtchen zuwandte.
    Mertyn beugte sich vor und betrachtete das kleine Wesen. Sanft berührte er die klitzekleinen Fingerchen seines Sohnes, und ein glückliches Lächeln vertrieb die Anspannung von seinem Gesicht. Lisbeth vermeinte, ein verräterisches Glitzern in Mertyns Augen zu entdecken, und schluckte trocken. Wie würde es ihn schmerzen, sollte er erfahren, dass er vielleicht nicht der Vater dieses Kindes war, dachte sie bang.
    »Wir werden ihn Peter nennen«, flüsterte Mertyn zärtlich. »Nach deinem Vater.«
    »Vielleicht lieber Andreas?«, schlug Lisbeth vor. Sie mochte ihren Schwager nicht besonders, doch der Name gefiel ihr ausnehmend gut.
    »Ganz wie du willst«, stimmte Mertyn zu. Dann wurde er sich plötzlich wieder der Eigentümlichkeit der Situation bewusst. »Aber was machst du hier draußen? Hier auf dem Hof?«, fragte er irritiert.
    »Das Kontor hat gebrannt. Der kleine Andreas scheint einen Hang zu dramatischen Auftritten zu haben, sonst hätte er sich bestimmt nicht den Moment ausgesucht, um geboren zu werden.« Lisbeth lächelte und machte Anstalten, sich zu erheben. Behutsam nahm Hilda ihr das Kind aus dem Arm.
    »Das Kontor hat gebrannt?«, wiederholte Mertyn überrascht und griff seiner Frau stützend unter die Arme. »Wie konnte das geschehen? Jetzt im Frühjahr und am hellen Tag, wo weder Kerze noch Kaminfeuer brennen? Wo, zum Teufel, steckt eigentlich Stephan?«
    Lisbeth zuckte zusammen. Mertyns Worte hatten jäh den Schleier aus Glück, der sie nach der Geburt ihres Sohnes umhüllt hatte, zerrissen und riefen die grauenhaften Geschehnisse des Morgens in ihr Bewusstsein zurück. »Hast du den jungen Herrn Ime Hofe gesehen?«, fragte sie den Stallburschen.
    Dieser schüttelte verneinend den Kopf. »Schon die ganze Zeit, während wir gelöscht haben, nicht.«
    »Maren, geh in Stephans Kammer und sieh nach, ob er da ist!«, befahl Lisbeth. Auf Mertyns Arm gestützt, machte sie vorsichtig ein paar Schritte.
    Gerade als sie in die Halle des Hauses traten, kam ihnen Maren wieder entgegengestürzt. »Der junge Herr Ime Hofe ist fort!«, rief sie.
    »Was heißt fort?«, herrschte Mertyn sie an.
    »Fort. Seine Kammer ist leer. All seine Sachen sind fort.«
    Mertyn starrte sie verblüfft an. »Aber wo kann er denn hin sein? Man muss ihn suchen! Er kann doch nicht so einfach …«
    Lisbeth schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir ihn finden würden«, sagte sie, bemüht, ihre Erleichterung nicht zu zeigen. Stephans Flucht hatte seine Drohung hinfällig gemacht. Wahrscheinlich hatte er genug Geld beiseitegeschafft, um irgendwo auf der Welt ein neues Leben zu beginnen. Lisbeth war sicher, dass sie ihn nie wiedersehen würden.
    Am Arm ihres Mannes trat sie durch die angekohlte Tür des Kontors. Der Raum, der einst Peters und danach Fygens Kontor gewesen war, bot einen traurigen Anblick.
    Decke und Wände waren rußüberzogen, eine schmutzige Lache aus kohlfarbenem Löschwasser bedeckte die vordem glänzend polierten Bodendielen. Die verkohlten Überreste des niedergebrannten Tischs lagen darin und einzelne Fetzen Papier, die die Flammen verschmäht hatten. Offenbar hatte Stephan die Geschäftsbücher aus den Regalen gerissen, auf den Tisch gehäuft und Feuer daran gelegt, bevor er die Wolkenburg verlassen hatte.
    Verständnislos blickte Mertyn auf das Durcheinander. »Kannst du dir auf all das einen Reim machen?«, fragte er entsetzt.
    »Ja«, sagte Lisbeth müde. »Ja, ich glaube, das kann ich.« Eine bleierne Schwäche überfiel sie, und ihr Gesicht verlor alle Farbe. Abermals drohten die Beine unter ihr wegzusacken. Behutsam hob Mertyn seine Frau hoch und trug sie, von Maren geleitet, die steinerne Treppe hinauf in die Kammer, wo er sie sanft auf die Bettstatt legte. »Ruh dich erst ein wenig aus«, sagte er und strich Lisbeth zärtlich eine wirre Haarsträhne aus dem

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