Die Tochter der Seidenweberin
Gesicht. »Alles andere kann warten.«
Dankbar schmiegte Lisbeth sich in die Kissen und war einen Wimpernschlag später eingeschlafen.
Als Lisbeth wieder etwas zu Kräften gekommen war und mit Mertyn und dem kleinen Andreas in das Haus Zur Roten Tür zurückkehrte, berichtete sie ihrem Mann in stockenden Worten von Stephans Betrug, den sie beim Prüfen der Geschäftsbücher aufgedeckt hatte, und welch schändliche Rolle dieser bei Hermans Tod gespielt hatte. Nur Stephans Drohung verschwieg sie Mertyn wohlweislich.
Niemals würde sie ihrem Mann eingestehen, dass sie ihn mit seinem Bruder betrogen hatte. Und jetzt, da Stephan verschwunden war, würde es hoffentlich für immer ihr bitteres Geheimnis bleiben. Der Anblick ihres Sohnes würde ihr ihre Untreue stets vor Augen halten, doch mit diesem Wissen würde sie leben müssen.
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Teil IV
1511 bis 1513
18 . Kapitel
M attes Licht fiel durch das schmale Fenster im Obergeschoss und warf dunkle Schatten unter die Augen der Frau auf dem Bett. Ihr Gesicht war bleich, die pergamentene Haut spannte sich über die hohlen Wangen. Ihre Augen waren geschlossen, und es schien, als schliefe sie.
Lisbeth setzte sich bequemer auf dem Hocker zurecht, den sie sich neben die Bettstatt gezogen hatte, und ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag vor nun bald zwei Jahren, an dem sie von Stephans unbegreiflichen Taten erfahren hatte.
In den Tagen, die auf den Brand in der Wolkenburg folgten, hatte Hans Her sich die Mühe gemacht, das, was von den Geschäftsbüchern noch übrig war, zu sortieren. Er hatte mit all jenen Kaufleuten, Handwerkern und Seidmacherinnen gesprochen, von denen er wusste oder zumindest vermutete, dass Fygen mit ihnen Geschäfte tätigte. Die Ehrlichen unter ihnen hatten ihre Rechnungen bezahlt.
Von der Ursache des Feuers, das die Geschäftspapiere vernichtet hatte, hatte Hans ihnen gegenüber nichts verlauten lassen, so wie sich die Familie auch über Stephans Verschwinden ausschwieg. Offiziell hatte er den Dienst quittiert, nachdem man die Faktorei aufgelöst hatte, und war ins Ausland gegangen, nach London vielleicht.
Hans war es nicht möglich gewesen, den genauen finanziellen Verlust, der durch Stephans Betrügereien entstanden war, zu beziffern, sosehr er sich auch bemüht hatte. Doch Fygen hatte auf die Nachricht erstaunlich gelassen reagiert. Das jedenfalls hatte Lisbeth den Briefen entnommen, die Fygen den Warensendungen aus Valencia beigefügt hatte.
Ihre Mutter und Mertyn waren übereingekommen, dass Fygen ihre Rohseide nun an ihn lieferte – freilich nicht mehr im Auftrag der Ravensburger Handelsgesellschaft –, was sie für Lisbeth nochmals um einiges günstiger machte.
Weit mehr schien Fygen dagegen die Enttäuschung über Stephans Verrat zu bekümmern. »Sag Katryn, es tut mir unendlich leid. Ich habe mich geirrt und bitte sie inständig um Vergebung«, hatte sie geschrieben.
Auf diese Worte hatte Lisbeth sich keinen Reim machen können, aber als sie Mertyns Mutter gegenüber Fygens Worte wiederholt hatte, hatte diese wissend genickt. »Das hatten wir alle damals nicht erwartet. Fygen trifft keine Schuld.«
Lisbeth musste ihre Schwiegermutter verständnislos angeblickt haben, denn erklärend hatte diese hinzugefügt: »Es war deine Mutter, Lisbeth, die mich damals angefleht hat, Stephan um der Barmherzigkeit willen zu mir zu nehmen und wie einen eigenen Sohn aufzuziehen.« Seufzend hatte Katryn innegehalten, doch nach einem Moment des Zögerns hatte sie sich entschlossen, Lisbeth die ganze Wahrheit zu erzählen.
»Mertyn, mein Mann, konnte seine Finger nicht von den Frauen lassen. Eines Tages war es dann geschehen: Er hatte eines meiner Lehrmädchen geschwängert. Ich jagte das Luder sofort aus dem Haus, aber Fygen nahm das Mädchen auf, bis es sein Kind zur Welt gebracht hatte. Danach kam deine Mutter zu mir und redete mir ins Gewissen, das Kind zu mir zu nehmen. Sie konnte nicht ahnen, was geschehen würde. Keiner konnte das.« Resigniert hatte Katryn die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Für Mertyns Mutter war es ein Schock gewesen, dachte Lisbeth betrübt und strich Katryn sanft über die Stirn. Stephans Schändlichkeiten hatten sie so sehr erregt, dass sie einen Schwächeanfall erlitten hatte. Wochenlang hatte sie das Bett gehütet und sich danach nicht wieder richtig erholt.
Heute war sie zum Morgenmahl nicht erschienen, und als Lisbeth in ihre Kammer hinaufgestiegen war, hatte sie Katryn mit Erschrecken in diesem
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