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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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beängstigenden Zustand zwischen Wachen und Dämmern vorgefunden.
    Lisbeth spürte die Bewegung auf der Bettstatt mehr, als dass sie sie sah. Katryn hatte die Augen aufgeschlagen und blickte sie an. »Es ist … bald so weit«, flüsterte sie mit schwacher Stimme, die wie das Rascheln von Papier klang.
    »Scht, das darfst du nicht sagen«, beschwichtigte Lisbeth. »Du wirst wieder gesund.«
    Katryn schloss die Augen und schüttelte unmerklich den Kopf. Sie fühlte, wie es um sie stand. »Hol Mertyn. Ich habe … Wichtiges … zu besprechen.«
    Kaum vermochte Lisbeth ihre Worte zu vernehmen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich erhob.
    Behutsam öffnete Lisbeth die Tür zur Stube. Ihr bot sich ein friedvoller Anblick. Mertyn und der nun bald zweijährige Andreas saßen auf den blankpolierten Holzdielen. Andreas hielt ein farbiges Ei mit beiden Fäusten fest umklammert. Die kleine Zunge voller Eifer zwischen die Zähne geklemmt, hieb er damit auf ein anderes Ei ein, das Mertyn in seiner Rechten hielt.
    Seit ein paar Jahren war es in Mode gekommen, für die Ostertage Eier hart zu kochen und sie mit Pflanzenrinde bunt einzufärben, eine Sitte, die, wie es hieß, die Seeleute aus den neuen Ländern jenseits der Meere mitgebracht hatten.
    Doch gleich, woher der Brauch stammte, die Kinder hatten ihren Spaß daran. Und nicht nur die Kinder, dachte Lisbeth, als sie das Vergnügen im Gesicht ihres Gemahls sah.
    Es knirschte, und Andreas stieß ein freudiges Geheul aus. Er hatte gewonnen. Sein Ei war heil geblieben, während die Schale des Eis seines Vaters gesprungen war. Gierig griff Andreas nach dem beschädigten Ei und hielt seine Trophäe stolz in die Höhe. Dann legte er es zu den drei anderen Eiern, die er seinem Vater bereits abgenommen hatte, und forderte: »Noch mal!«
    »Mertyn«, sagte Lisbeth mit belegter Stimme. Nur ungern störte sie die beiden in ihrem Spiel.
    Mertyn reckte träge die steifen Glieder. Als er jedoch den besorgten Ausdruck auf Lisbeths Gesicht erblickte, kam er sofort auf die Beine. »Mutter?«, fragte er, und die Freude erlosch auf seinem Gesicht.
    Lisbeth nickte. »Sie ist sehr schwach. Sie hat nach dir gefragt.«
    Als Mertyn und Lisbeth in Katryns Kammer traten, erhellte ein schwaches Lächeln die Züge der Kranken. »Ich habe … kein Testament aufgesetzt«, flüsterte Katryn. Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer.
    Mertyn und Lisbeth traten nah an die Bettstatt heran, um ihre Worte zu verstehen.
    »Ich habe …« Katryn brach ab und schöpfte Luft. Müde streckte sie den Arm aus und ergriff Lisbeths Hand. »… Geld beim Fugger … Erbe meines Vaters.« Für einen Moment schloss sie die Augen, als sammele sie Kraft für die folgenden Worte. »Das Seidamt … nimm das Geld … mach das Seidamt wieder zu dem, was es war!« Katryns müde Augen hielten Lisbeths Blick fest, forderten ein Versprechen.
    Lisbeth schossen die Tränen in die Augen. Dennoch hielt sie Katryns Blick stand. »Das werde ich!«, versprach sie mit erstickter Stimme. »Das werde ich!«
    Mit einem Seufzer ließ Katryn Lisbeths Hand los und schloss die Augen. Ihre Züge schienen sich zu entspannen. »Ruft Pater Anselm«, flüsterte sie.
    So still Katryn in den letzten Jahren gelebt hatte, so leise verabschiedete sie sich aus dem Leben. Nur wenige Stunden, nachdem Pater Anselm ihr die Beichte abgenommen und die Sterbesakramente erteilt hatte, schlossen sich die nussbraunen Augen der Seidmacherin zum letzten Mal.
     
    Feine Staubkörnchen tanzten in dem kalten Sonnenstrahl, der durch das Fenster der Seidenwerkstatt in Sankt Peter fiel. Mit einem tiefen Seufzer ließ Clairgin das fast leere Schiffchen zwischen den Kettfäden hindurchgleiten. Sorgfältig wickelte sie das Fadenende um den äußeren Kettfaden und schlug zum letzten Mal die Kammlade an. Zum allerletzten Mal. Dies war ihr letztes Seidentuch. Kritisch betrachtete Clairgin das Gewebe. Es war gerade wenige Fuß lang geworden, aber sie hatte kein Seidengarn mehr und auch kein Geld, um neues zu kaufen.
    Reglos blieb Clairgin an ihrem Webstuhl sitzen, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Es war vorbei. Sie würde das Weben aufgeben und die Werkstatt schließen müssen.
    Zwar hatte Brigitta van Berchem ihr angeboten, Clairgin könne für sie im Verlag weben, und auch Frieda Medman hatte angedeutet, sie gerne als Weberin beschäftigen zu wollen. Wie die Geier schienen sie nur darauf zu warten, dass ihr das Geld ausging. Doch brüsk hatte Clairgin die

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