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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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hast du die Vorgänge verbucht?«, fragte sie.
    Stephan räusperte sich und zog die Schultern hoch. »Ich habe sie nicht verbucht«, sagte er.
    Wieder dieser gereizte Tonfall, bemerkte Lisbeth. »Warum nicht?«, fragte sie.
    »Die wenigen Geschäfte lohnten doch den Aufwand nicht!«, gab er zurück. »Bist du nun fertig?«
    Nein, Lisbeth war noch nicht fertig. Warum wurde er mit einem Mal ungeduldig? Sie versenkte sich wieder in die Aufzeichnungen. So konnte sie beileibe nicht rasch erkennen, ob die Geschäfte profitabel gewesen waren oder nicht. Und so war es auch schwierig, zu bewerten, ob alles seine Richtigkeit hatte, dachte sie und verwünschte Stephans Nachlässigkeit. Sie hatte keine Lust, die ganzen Buchungen auf die neue Weise nachzuholen, doch sie würde zumindest stichprobenartig einige Vorfälle nachvollziehen. Dann konnte sie ihrer Mutter guten Gewissens mitteilen, dass sie ihrer Aufgabe nachgekommen war.
    Wieder richtete sie ihr Augenmerk auf Stephans Liste der Ein- und Verkäufe. Ihr Blick fing sich an einer Eintragung, die sie betraf: Zweitausend Pfund Rohseide aus Valencia an Lisbeth Ime Hofe verkauft für fünftausendsechshundert Gulden. Lisbeth nickte. Das war die Menge, die sie gekauft, und der Preis, den sie dafür bezahlt hatte.
    Nur drei Zeilen darunter las sie: Dreitausend Pfund Rohseide aus Valencia an Frieda Medman verkauft für sechstausend Gulden.
    Lisbeth stutzte. Für ein Drittel mehr an Rohseide hatte Frieda einen nur unwesentlich höheren Preis gezahlt. Lisbeth überschlug die Rechnung im Kopf. Nur zweihundert Gulden hatte sie Stephan für den Zentner gegeben. Das war wenig mehr, als der Einkaufspreis betragen haben mochte.
    Warum hatte Stephan Frieda einen so niedrigen Preis abgenommen? Lisbeth runzelte die Stirn. Ob es ein Versehen war?
    Lisbeths Zeigefinger glitt die Liste weiter hinunter. Da: Zweitausenddreihundert Pfund Rohseide aus Valencia an Mechthild van der Sar verkauft für viertausendundachthundertdreißig Gulden. Unwillkürlich griff Lisbeth nach einem Blatt Papier und der Feder. Zweihundertzehn Gulden hatte Mechthild für den Zentner gezahlt, rechnete sie aus.
    Hastig suchte sie nach dem nächsten Verkauf von Rohseide. Katharina Loubach hatte auch nur zweihundert Gulden gezahlt!
    Lisbeth biss sich auf die Lippe. Eine Seide von mittlerer Qualität erzielte gewöhnlich um die zweihundertfünfzig Gulden. Für die aus Valencia konnte er leicht zweihundertneunzig, vielleicht dreihundert verlangen. Sie selbst als Fygens Tochter zahlte zweihundertachtzig Gulden. Doch warum hatte Stephan den anderen Seidmacherinnen die Rohseide für einen weit geringeren Preis verkauft als ihr?
    Lisbeth konnte sich nicht vorstellen, dass er sie übervorteilt hatte. Die Seide war von ausgezeichneter Qualität, und wenn Stephan solche Seide zu einem derart günstigen Preis verkauft hätte, hätte es sich herumgesprochen, und sie hätte mit Sicherheit davon erfahren.
    Ein böser Verdacht stieg in ihr auf. Andersherum! Sie musste die Frage andersherum stellen: Warum hatte er ihr die Seide zum richtigen Preis verkauft?
    Hatte Stephan den anderen Seidmacherinnen die Rohseide zwar zum richtigen Preis verkauft, aber in den Büchern einen niedrigeren verzeichnet? Lisbeths Gesicht verlor alle Farbe. Warum hatte er das getan? Um sich die Differenz in die eigene Tasche zu stecken? Der Gedanke nahm ihr den Atem. Wie viel mochte Stephan auf diese Weise beiseitegeschafft haben?
    Das teure silberne Armband, das Stephan ihr geschenkt hatte, kam Lisbeth in den Sinn. Es passte alles zusammen. Vor allem, dass Stephan die Bücher nicht weiter nach der neuen Methode geführt hatte. Denn dann wären solche Unstimmigkeiten bei einer Überprüfung viel deutlicher zutage getreten, weil alle Seidenverkäufe in einem Konto beieinandergestanden hätten.
    Wenn man sie geprüft hätte, fügte Lisbeth in Gedanken hinzu. Verärgert erinnerte sie sich daran, mit welcher Leichtigkeit Stephan sie von ihrem Vorhaben hatte abbringen können, als sie das erste Mal deswegen in die Wolkenburg gekommen war. Wie arglos sie gewesen war!
    »Stephan, was hast du getan?«, fragte Lisbeth mit brüchiger Stimme. »Meine Mutter hat dir vertraut. Sie hat dich seit Hermans Tod eigenständig ihre Geschäfte führen lassen!«
    Wie gestochen fuhr Stephan aus seinem Stuhl auf und schlug Lisbeth das Buch vor der Nase zu. »Herman! Dieser Sodomit, den du deinen Bruder nennst«, rief er wutentbrannt. »Herman hat bekommen, was er verdient! Die

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