Die Tochter der Seidenweberin
bereits weit über sechzig sein musste.
Brigitta selbst jedoch fehlte, was Lisbeth nicht bekümmerte. Es hieß, sie und ihre Schwester seien nach der Hinrichtung ihres Oheims nach Endenich gezogen. Es war nicht zu erwarten, dass sie je nach Köln zurückkehrten, denn Haus Xanten und das Haus Zum Kleinen Schönwetter standen zum Verkauf. Zu Lisbeths großer Freude war in Rudolfs Begleitung auch Clairgin gekommen.
Achtundfünfzig Köpfe zählte Lisbeth verstohlen, darunter sechsundzwanzig Ehemänner der Seidmacherinnen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Mit einem Mal spürte sie ein flaues Gefühl im Magen. Wie würden ihre Amtsschwestern ihre Worte aufnehmen? Würden sie ihr zustimmen, oder würden sie sie schlicht und einfach auslachen?
Zumindest zeigte das zahlreiche Erscheinen der Seidmacherinnen doch, dass ihnen ihre Zunft noch am Herzen lag. Ihre Idee konnte also nicht so falsch gewesen sein, versuchte Lisbeth sich selbst Mut zu machen.
Noch nie hatte sie vor so vielen Menschen gesprochen. Für einen Moment verwünschte Lisbeth ihre eigene Courage. Am liebsten hätte sie den Saal fluchtartig verlassen und sich in ihrer Kammer verkrochen. Doch dafür war es nun beileibe zu spät. Sie hatte diese Versammlung einberufen, nun musste sie sie auch durchstehen.
Allmählich wurde es ruhiger im Saal, und Lisbeth spürte, wie sich die Blicke der Versammelten auf sie richteten. Mertyn, der neben ihr stand, nickte ihr aufmunternd zu. Es war an der Zeit, dass sie das Wort ergriff.
»Ich kann das nicht!«, flüsterte Lisbeth.
»Du schaffst das!«, raunte Mertyn ihr zu.
Das flaue Gefühl in Lisbeths Magen verdichtete sich zu einem Knoten. »Du hast gut reden. Du warst Ratsherr, jetzt haben sie dich zum Bierherrn gemacht, du bist es gewohnt, dass alle dich ansehen und dir zuhören. Ich habe so etwas noch nie gemacht«, zischte sie.
»Du kannst das, du wirst sehen!«, entgegnete er und schob sie sachte nach vorn.
Lisbeth spürte, wie ihr vom Ausschnitt ihres Kleides her die Röte zu Gesicht stieg. Sie machte einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen. Nun verstummten auch die letzten Gespräche und wichen einer gespannten Stille.
Lisbeth schluckte trocken. »Ich … ich freue mich, dass Ihr … dass Ihr meiner Einladung so zahlreich gefolgt seid. Die Stadt … die Stadt ist zu Ruhe und Ordnung zurückgekehrt. Die Verhandlungen über die Reform der … der städtischen Verfassung sind weit fortgeschritten. Bald siegeln Rat und Zünfte einen Transfixbrief, der die Verfassung in gerechter Weise abändern und ergänzen wird.« Stockend zunächst, dann immer flüssiger, sprach Lisbeth die Worte, die sie sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, und mit einem Mal wich ihre Aufregung, und Ruhe überkam sie. Dies hier waren Seidmacherinnen wie sie. Sie brauchte vor ihnen keine Angst zu haben. Lisbeth wusste, was sie sagen wollte, und sie wusste, warum sie es tat!
»Es ist an der Zeit, dass auch im Seidamt wieder Ordnung einkehrt!«, sagte sie fest, und ihre Stimme war deutlich bis in die Ecken des Saales vernehmbar.
Vereinzelt erklang Gemurmel, das Lisbeth als Zustimmung deutete. »Seit Jahren haben wir keinen gewählten Zunftvorstand mehr, der unsere Belange vertritt«, fuhr sie fort. »Die Bücher werden nicht geführt, die Lehrtöchter nicht mehr eingetragen und keine neuen Seidmacherinnen mehr zum Amt zugelassen. Viele von uns übertreten die Zunftgesetze gerade so, wie es ihnen beliebt.«
Abermals erhob sich beifälliges Gemurmel, doch es erklangen auch protestierende Stimmen.
»So ein Unsinn!«, vernahm Lisbeth Mechthild van der Sars spitze Stimme, doch sie ging nicht auf deren Zwischenruf ein. »Welche Übertretungen das sind, brauche ich hier nicht zu nennen, denn Ihr wisst alle, wovon ich spreche.«
Sie wartete einen Moment, bis es im Saal wieder still geworden war. »Das Geschäft ist nicht einfacher geworden. Ihr habt es auf den Messen gesehen, die Konkurrenz aus Venedig, Genua und Florenz, vor allem aber aus den Niederlanden, aus Gent, Brügge und Antwerpen wird immer stärker. Dort fertigen sie Sammet, Atlas und Brokat und verkaufen es zu erschreckend günstigen Preisen«, warnte sie.
Johann Liblar und Dres van der Sar nickten zustimmend, und Lisbeth fuhr fort: »Um uns dieser Konkurrenz zu erwehren, ist es unbedingt vonnöten, dass wir eine große und gut organisierte Zunft sind, die auf die Qualität ihrer Erzeugnisse achtet. Denn nur so können wir auf lange Sicht den guten Ruf, den unsere Seide
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