Die Tochter der Seidenweberin
mochte – so genau ließ sich das nun nicht mehr sagen. Lisbeth rüttelte an dem Regal, um seine Standfestigkeit zu prüfen, und schaffte es gerade noch, mit einem hastigen Schritt zurückzuweichen, bevor die morschen Bretter in sich zusammenfielen.
Das Regal würde sie erneuern müssen, dachte Lisbeth und klopfte sich den Staub von Kleid und Händen. Zudem bedurfte es auch noch des einen oder anderen Werkzeuges. Kammladen, Spulen, neue Weberschiffchen, notierte sie im Geiste. Aber wenn man hier gründlich sauber machen und die Wände ordentlich tünchen würde, so hätte man eine respektable Seidmacherwerkstatt.
Noch am selben Nachmittag würde sie ihre Mägde an die Arbeit schicken, beschloss Lisbeth.
Angespannt lief Lisbeth im großen Saal der Wolkenburg hin und her.
»Stell dir vor, Andreas hat jetzt endlich einen Teil des Geldes vom Rat zurückerstattet bekommen, das er beim Reichstag dem Kaiser geliehen hat«, sagte Agnes und rückte einen der Weinkrüge auf der Tafel zurecht.
»Doch so bald?«, witzelte Lisbeth, und für einen Moment kehrten ihre Gedanken zurück zu jenem Tag, an dem sie mit Stephan und Andreas im Zunfthaus der Brauer König Maximilian begegnet waren und dieser Andreas um ein Darlehen angegangen war. So lange war das nun her, und so vieles war seither geschehen, beileibe nicht nur, dass aus König Maximilian inzwischen Kaiser Maximilian geworden war.
Doch lange mochte Lisbeth nicht bei diesen Gedanken verweilen. Viel zu aufgeregt war sie und stellte sich wohl zum hundertsten Mal die Frage, ob man ihrer Einladung folgen würde. Zumal die garstige Kälte, welche die Stadt in ihren Klauen hielt, nicht gerade dazu einlud, das Haus zu verlassen.
In den vergangenen Tagen hatte sie Boten zu allen Seidmacherinnen und Seidenhändlern geschickt und sie am heutigen Tag in die Wolkenburg gebeten. Denn für eine solch große Versammlung wäre der Saal im Haus Zur Roten Tür nicht groß genug – wenn denn alle kämen.
Katharina Loubach und ihr Mann Conrad waren die Ersten, die die Mägde in den Saal führten. Schwer auf Katharinas Arm gestützt, trat Conrad auf Lisbeth zu. »Es ist wahrlich an der Zeit, dass das Seidamt sich versammelt«, begrüßte er sie, und Lisbeth erschrak über das blasse, eingefallene Gesicht des Seidenhändlers. Er war abgemagert, und es schien, als sauge eine Krankheit alle Lebenskraft aus ihm heraus.
»Es freut mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid«, erwiderte sie und schloss Katharina, der die Sorge um ihren Gemahl deutlich anzusehen war, in ihr warmes Lächeln mit ein. Doch es blieb ihr keine Zeit, Katharina nach den Umständen von Conrads Krankheit zu fragen, denn schon traten hinter ihnen Adelheid Liblar mit ihrem Mann Heinrich und dessen Vater Johann in den Saal.
»Ihr habt gut daran getan, dass Ihr uns zusammengerufen habt!«, sagte Johann Liblar. »Wie es scheint, habt Ihr die Tatkraft Eurer Mutter geerbt.«
Die freundlichen Worte des alten Seidenhändlers machten Lisbeth Mut. Anscheinend gab es wirklich den einen oder anderen, der ihre Meinung teilte. Es blieb nur zu hoffen, dass es deren mehr waren als Conrad Loubach und Johann Liblar.
Während die Mägde ihre ersten Gäste mit Wein bewirteten, begrüßte Lisbeth Rita von Kerpen, ihr ehemaliges Lehrmädchen, und deren Mann. Ein Schatten fiel über ihre Züge, als sie daran denken musste, wie Herman einst Ritas Zulassung zum Seidamt im Rat durchgesetzt und sich damit Brigitta van Berchem zur Feindin gemacht hatte.
Als Nächste erschienen Ida Rummels, gefolgt von Liese Backes und Gundula von Bruwiler, die Frauen, denen Lisbeth mit Katryns Geld die valencianische Seide gestundet hatte. Sie begrüßten Lisbeth mit besonderer Höflichkeit, denn diese Angelegenheit war ihnen immer noch unangenehm.
Lisbeth hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass man ihrer Einladung nicht folgen würde. Viel zu neugierig waren alle darauf, zu hören, was die Frau Ime Hofe zu sagen wusste, als dass sie diese Zusammenkunft hätten verpassen wollen – schließlich würde es die erste Zunftversammlung seit über zehn Jahren werden. Zumindest die erste, die diesen Namen verdiente.
Zur angegebenen Stunde waren beinahe alle Geladenen erschienen, auch das Kränzchen, das sich einst um Brigitta van Berchem geschart hatte: Mechthild van der Sar mit ihrem Mann Dres, Mettel van Hielden, Veronika van Herten und die gewichtige Frieda Medman mit ihrer Tochter Dora und sogar die alte Genovefa van Wychtericht, die
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