Die Tochter der Seidenweberin
Clairgins größter Wunsch, wieder als Seidmacherin zu arbeiten. Lisbeth kannte sie immer noch sehr gut, dachte Clairgin. Auch nach den vielen Jahren, in denen sie keine Freundinnen mehr waren.
Lisbeth hatte Fehler gemacht, doch sie hatte sich geändert. Sie hatte sich nach Kräften bemüht, die Missstände im Seidamt zu ändern, das war Clairgin heute klargeworden, und hatte es sogar geschafft, die Amtsgenossen dazu zu bringen, sich heute hier zu versammeln und ihren Eid auf die Zunftordnung zu erneuern.
Und sie hatte immer an ihrer Freundschaft festgehalten, erkannte Clairgin ein wenig beschämt. Vielleicht hatte sie ihr unrecht getan, als sie ihr die Freundschaft aufgekündigt hatte.
Es gab wirklich keinen Grund, Lisbeth länger zu zürnen. Und vielleicht hatte diese ja recht? Vielleicht wurde nun wirklich wieder alles wie früher, und es gab für jede Seidmacherin genug zu verdienen. Die Wehmut verschwand von Clairgins Zügen und wich einem hoffnungsvollen Lächeln. Liebend gerne würde sie die Elnersche Werkstatt mieten.
Doch dann blitzte ein anderer Gedanke in Clairgin auf und ließ das Lächeln ersterben. Ihre Stirn umwölkte sich, und auf ihrer Nasenwurzel erschien eine steile Falte. Rudolf hatte ihr beigestanden und sie aufgenommen, als sie dringend seiner Hilfe bedurfte. Sie konnte ihm seine Großzügigkeit nicht damit entlohnen, dass sie ihn jetzt im Stich ließ. »Es geht nicht«, sagte sie enttäuscht und blickte sich zu ihrem Gemahl um. »Rudolf braucht mich im Weinzapf.«
Doch dieser schüttelte verneinend den Kopf und bedachte Clairgin mit einem schalkhaften Grinsen. »Nur zu!«, sagte er. »Du weißt doch, dass ich schon immer eine Seidmacherin zur Frau wollte. Ich werde mir einfach ein neues Schankmädchen suchen.«
Lisbeth konnte nicht umhin, über seine Worte zu lachen. »Nun kommt, Frau Zunftmeisterin!«, drängte sie.
Clairgin schluckte, und unter dem Gemurmel ihrer Zunftgenossinnen zog Lisbeth sie nach vorn.
»Die ist doch gar keine Seidmacherin mehr!«, ereiferte sich Frieda Medman, und Mechthild van der Sar giftete hintendrein: »Eine Schankmagd! So weit ist es mit dem Seidamt gekommen!«
Doch ihre Amtsschwestern schienen Friedas und Mechthilds Geringschätzung für Clairgin nicht zu teilen. Bei der Abstimmung entschieden sie sich mit großer Mehrheit dafür, dass Clairgin mit Lisbeth im kommenden Jahr das Geschick des Seidamtes lenken sollte, und ohne weitere Umstände wählten sie Dres van der Sar und Heinrich Liblar zu den beiden Herren vom Seidamt.
Maren und die anderen Mägde der Wolkenburg füllten den Versammelten die Becher, und als man sich ausgiebig auf das Wohl der neuen Amtsmeister zugetrunken hatte, traten auf Lisbeths Geheiß hin zwei städtische Bedienstete herein. In ihrer Mitte trugen sie eine schwere, eisenbeschlagene Kiste – den Zunftschrein des Seidamtes, in dem die Zunftbriefe, der Transfixbrief aus dem Jahre 1506 , das Lehrtöchterbuch und die Zunftkasse verwahrt wurden.
Unter den neugierigen Blicken ihrer Zunftgenossinnen und -genossen öffneten die neuen Herren vom Seidamt den Schrein. Die Geldkiste war leer, doch das erstaunte Lisbeth wenig. Sie griff nach dem Zunftbuch und blätterte, bis sie den letzten Eintrag fand. Er stammte aus dem Jahre 1503 . Seit zwölf Jahren war keine Sitzung eines Zunftvorstandes mehr protokolliert und keine Zulassungen von Seidmacherinnen zum Amt oder ihr Ausscheiden verzeichnet worden.
Bedächtig schlug Lisbeth die Seite des Buches um. Ein neues Blatt der Zunftgeschichte wartete darauf, beschrieben zu werden.
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Ein Wort zum Schluss
D ie Tochter der Seidenweberin« ist ein Roman, der auf geschichtlichen Ereignissen basiert. Um den Fluss der Erzählung nicht zu stören, habe ich mir jedoch erlaubt, einige kleine zeitliche Änderungen vorzunehmen. So war Mertyn beispielsweise nicht 1508 , sondern erst wieder im darauffolgenden Jahr und 1512 Ratsherr. Andreas Imhoff war ab 1503 Faktor der Vöhlin-Welser und wurde erst ab 1506 für die Fugger tätig, also ein Jahr später als berichtet, und Andreas Ime Hofe, der Sohn von Lisbeth und Mertyn, wurde zwei Jahre später, nämlich erst 1511 geboren.
Während des Mittelalters war Köln die Seidenstadt im Deutschen Reich. Ein Seidengewerbe von ähnlicher Bedeutung gab es zu jener Zeit nur in Paris, Lyon und in den Städten Oberitaliens. Auch als das Gewerbe im 15 . Jahrhundert weitere Verbreitung in Deutschland fand, behielt Köln seine vorherrschende Stellung bis in das
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