Die Tochter der Seidenweberin
Zeitlang hatte sie das Nichtstun genossen, doch für immer war Müßigkeit ihre Sache nicht. Sie brauchte ihre Arbeit, ihre Aufgabe, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Wie Fygen es auch drehte und wendete, es war an der Zeit, zu reisen und Abschied zu nehmen von der Stadt der Blumen. Und von Alejandro.
Langsam senkte sich die Dämmerung über das Land. Marcos entzündete die Öllichter und stellte eines davon zwischen sie auf den Tisch. Demá – morgen. Morgen würde sie sich um eine Schiffspassage kümmern. Ihre Stimme klang brüchig, als sie fragte: »Nimmst du mich mit, wenn du morgen in die Stadt fährst?«
Alejandro nickte. Das Flackern des Öllichtes spiegelte sich in seinen Zügen. Wortlos griff er über den Tisch und legte seine Hand auf die ihre.
In der Nacht liebten sie sich mit hungriger Verzweiflung, als müssten auch ihre Leiber voneinander Abschied nehmen, als sei dies das letzte Mal, auch wenn ihnen das Schicksal noch eine kurze Frist gewährte. Ein paar Tage noch. Vielleicht eine Woche …
Fygen lag lange wach, schmiegte sich eng an Alejandro und hielt ihn umschlungen, als wolle sich ihr Körper seinen Leib, die Wölbung jedes Muskels, jeden Flecken seiner Haut einprägen, um sich seiner in den kommenden Jahren erinnern zu können.
Erst das eintönige Rauschen des einsetzenden Landregens wiegte sie in einen unruhigen Schlaf.
Der Anblick der zerlumpten Bettlerin, die neben dem Tor zur Wolkenburg im Schmutz der Straße hockte, versetzte Lisbeth einen Stich. Fünf Kinder schmiegten sich an ihre Röcke. Das Jüngste, ein Säugling noch, hatte sie an die ausgemergelte Brust gelegt. Dabei mochte die Frau kaum älter sein, als sie selbst war. Dürr war sie, mit eingefallenen Wangen, und die Knochen der Schlüsselbeine stachen spitz durch den dünnen Stoff ihres Kittels. Die Frau bot einen bemitleidenswerten Anblick. Doch bedauernswerter noch erschienen Lisbeth die Kinder. Ihre hungrig blickenden Augen lagen tief in dunklen Höhlen, musterten argwöhnisch jeden, der des Weges kam.
Wie ungerecht es im Leben zugeht, dachte Lisbeth. Diese Frau hier hat fünf Kinder, und für keines genug zu essen. Mit Erschrecken verspürte Lisbeth, wie ein völlig unsinniger Neid auf die junge Bettlerin in ihr aufstieg. Warum hat sie diese Kinder und nicht ich? Wie gut könnten es dagegen ihre Kinder haben, wenn sie denn welche hätte! Im Haus Zur Roten Tür wäre Platz für ein ganzes Dutzend, und es würde ihr und Mertyn keine Sorge bereiten, sie zu nähren und zu kleiden.
Lisbeth schämte sich für ihre Gefühle, doch sie war ihnen hilflos ausgeliefert. Verlegen griff sie in den ledernen Beutel, der ihr vom Gürtel hing, und kramte nach einer Münze. Einen ganzen Gulden legte sie der Bettlerin in die ausgestreckte Hand. Dann wandte sie sich hastig ab und eilte durch das Torhaus.
Im Hof der Wolkenburg stürmte ein kleines braunes Bündel ausgelassen wedelnd auf sie zu. Lisbeth griff den Welpen am Nackenfell und hob ihn sich auf den Arm. Mit einem leisen Schluchzer drückte sie den warmen Körper an ihre Brust und barg ihr Gesicht in dem weichen Fell.
Hocherfreut über die Zuwendung duldete der Welpe, dass Lisbeth seinen kleinen Körper in ihren Armen wiegte, und leckte die bitteren Tränen fort, die über ihre Hand in sein Fell rannen. Doch nach einer Weile wurde er unruhig und begann, sich zu winden.
Sachte setzte Lisbeth den jungen Hund auf das Pflaster und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. Ein paarmal schöpfte sie tief Luft, um sich zu beruhigen und ihren Gleichmut wiederzuerlangen, dann machte sie sich auf die Suche nach Stephan und Herman. Sie hatte sich entschlossen, ihnen die ganzen fünftausend Pfund Seide abzunehmen, und sie war auch schon mit ein paar Seidmacherinnen einig geworden, die gerne für sie arbeiten würden.
Im Haus war es ungewöhnlich ruhig, und in Fygens Kontor traf sie weder Herman noch Alberto an. Auch Stephan war nirgends zu sehen. Aufgeschlagene Journale lagen auf dem Tisch, darauf eine Feder und ein geöffnetes Tintenfass, als hätten sie ihre Arbeit nur kurz unterbrochen.
Lisbeth ging zurück in die Halle und wollte gerade laut nach ihrem Bruder rufen, als sie im Obergeschoss Stimmen vernahm. Mit gerafftem Rocksaum stieg sie die breit geschwungene Steintreppe hinauf. Der Flur im Obergeschoss war leer, die Flügeltür zum großen Saal geschlossen. Nur auf der gegenüberliegenden Seite, zum Hof hin, fiel ein schmaler Streifen Licht durch einen Spalt in der Tür
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