Die Tochter der Seidenweberin
bereits zu spät. Über ihren Kopf hinweg hatte Mertyns Bruder genug gesehen, um das Ungeheuerliche zu erfassen.
Angst ergriff Lisbeth, und winzige Tropfen kalten Schweißes traten ihr auf die Stirn. Hermans gefährliches Geheimnis war entdeckt. Bang blickte sie Stephan an. Was würde er tun? Würde er Herman verraten? Wie könnte sie ihn dazu bewegen, Stillschweigen über die Sache zu bewahren?
Doch ihr Schwager schien von dem, was er gerade gesehen hatte, wenig beeindruckt. Kurz hob er den Finger an die Lippen und bedeutete Lisbeth, leise zu sein. Wusste Stephan bereits um das Verhältnis zwischen den beiden, fragte Lisbeth sich. Verwunderlich wäre es nicht, denn schließlich lebte er mit Herman und Alberto unter einem Dach, arbeitete mit ihnen Seite an Seite.
»Komm hier fort, Lisbeth«, flüsterte Stephan sanft, legte beruhigend seinen Arm um ihre Schultern und führte sie fort von Hermans Kammer, die Treppe hinab und in Fygens Kontor.
Als sich die schwere Tür hinter ihnen geschlossen hatte, blickte er seiner Schwägerin ernst in die Augen. »Das muss ein Schreck für dich sein, ich weiß«, sagte er. »Aber du darfst niemandem davon erzählen. Niemandem!«, schärfte er ihr ein. Am besten, du vergisst einfach, was du gesehen hast.«
Lisbeth nickte erleichtert. Hermans Geheimnis war bei Stephan gut aufgehoben. Wie hatte sie auch nur einen Moment an der Loyalität ihres Schwagers zweifeln können?
Trübe dämmerte der Morgen herauf, als wüsste der Himmel um Fygens Traurigkeit. Wie ein grauer Schleier lag die Feuchtigkeit über dem Land, wob sich in Büsche und spannte sich zwischen den Bäumen. Nicht einmal die Orangenbäume sandten ihren Duft zum Geleit, als der Wagen vom Hof der Alqueria rollte.
Dies war nun tatsächlich der Abschied, dachte Fygen bekümmert und warf einen letzten Blick zurück. Sie hatte gerade noch eine Passage erhalten, auf dem letzten Lastschiff, das Valencia vor dem Winter verließ. Morgen bei Sonnenaufgang würde die Nau in See stechen, die westliche Atlantikküste in Richtung Antwerpen hinaufsegeln und sie nach Hause bringen. Fort von hier. Fort von Alejandro … Fygen unterdrückte ein Seufzen. Sie selbst hatte es so gewollt.
Den Weg zur Stadt – sie würden zunächst Eckert mit dem restlichen Gepäck in der Herberge abholen, bevor sie zum Grao hinausfuhren – legten sie schweigend zurück. Nur allzu bald hatten sie das Stadttor passiert und rollten in die Stadt hinein. Fygen achtete nicht auf den Weg, doch irgendwann erkannte sie linker Hand den Turia, der sich wie ein silbriger Wurm durch die Stadt schlängelte.
Sie durchquerten gerade die Quartiere der Handwerker, als Alejandro unvermittelt den Wagen vor einer Toreinfahrt zum Stehen brachte. Das Schlagen der Hufe erstarb, und übrig blieb ein klapperndes Geräusch, das durch das Tor auf die Gasse herausschallte. Zunächst achtete Fygen nicht darauf, doch dann horchte sie auf. Es war das vertraute Klappern eines Webstuhls.
Alejandro half ihr beim Absteigen, und voller Neugier folgte sie ihm durch das niedrige Tor zu dem Werkstattgebäude, das sich im Hof an die rückwärtige Wand des Hauses lehnte.
Alejandro öffnete die Tür und zog Fygen hinter sich her in einen langgezogenen Raum hinein. Im Vergleich zu ihrer Werkstatt in der Wolkenburg war es nur ein unordentlicher Schuppen, zu dunkel und ein wenig muffig, doch es war tatsächlich eine Seidenweberei.
Vier Flachwebstühle standen darin, aber nur an einem wurde gearbeitet. Bei ihrem Eintreten verstummte das Klappern. Mit sichtlicher Mühe erhob sich hinter dem Webstuhl eine magere, von den Jahren gebeugte Frau und trat auf sie zu.
Ganz nah kam sie Fygen und Alejandro, die Augen kurzsichtig zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, und musterte die Besucher. Dann schien sie Alejandro zu erkennen, und ein breites, zahnloses Lächeln glättete die kummervollen Furchen in ihrem Gesicht.
»Senyor de la Vega!«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang, als reibe man Pergament aneinander. Ehrfürchtig ergriff sie Alejandros Hand, und Fygen erkannte die Hoffnung, die sich auf den verwitterten Zügen spiegelte.
»Der Seidmacher ist verstorben«, erklärte Alejandro. »Und seine Witwe ist alt. Allein schafft sie die Arbeit nicht mehr und muss die Weberei verkaufen …«
Fygen spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ihre Glieder fühlten sich mit einem Mal an, als seien sie aus Watte. »… Verkaufen …«, hallten Alejandros Worte in ihrem Kopf wider. »…
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