Die Tochter der Seidenweberin
verstehen, dass er sich die Zeit lieber in den Tavernen der Stadt vertrieb, als ihr beim Turteln zuzuschauen.
Alejandro hatte ihr Gepäck in eine kleine Kammer im oberen Stockwerk bringen lassen, mit weißgetünchten Wänden und leichten, weißleinenen Vorhängen. Eine schwere Bettstatt aus dunklem Holz stand darin, eine Truhe, und auf einem niedrigen Tisch unter dem Fenster eine Waschschüssel.
Doch Fygen hatte die Kammer nur genutzt, wenn Alejandro in der Stadt geblieben war. Wann immer seine Geschäfte es zugelassen hatten, war er in die Alqueria gekommen. Sie hatten zusammen gespeist und bis in die Nacht miteinander geredet. Fygen hatte von ihm alles über dieses wunderbare Land wissen wollen, seine Bräuche und seine Menschen. Ja, sie hatte sogar die ersten Worte des Valenciano erlernt.
Auch Alejandro wollte, nachdem er seine anfängliche Zurückhaltung abgelegt hatte, alles über seinen älteren Halbbruder, den er nie kennengelernt hatte, erfahren. Fygen erzählte ihm von Peter, von Augusta, von ihren Töchtern und deren Kindern. Sie sprachen auch über die unseligen Verstrickungen, die zum gewaltsamen Tod ihres Vaters und, wie sie nun erfahren hatte, der Flucht seines und Peters Vaters geführt hatten.
»Wie kommt es, dass du so viel von Seide verstehst?«, hatte Alejandro an einem dieser verzauberten Abende, an denen die laue Luft sie liebkoste, wissen wollen.
Ausführlich hatte sie ihm von ihrer Seidenweberei berichtet, von der Leidenschaft, mit welcher sie diese aufgebaut und geführt hatte, bis hin zu jener schrecklichen Nacht, in der sie sich hatte entschließen müssen, sie aufzugeben. Sie erzählte Alejandro von Peters Tod und wie es schließlich dazu gekommen war, dass sie das Faktorenamt der Ravensburger übernommen hatte.
Es waren wundervolle Abende gewesen, die sie gemeinsam verbracht hatten. Abende und Nächte, in denen ihre Leidenschaft sie oft bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten hatte.
An den Tagen, die Alejandro in der Stadt verbrachte, hatte Fygen ausgedehnte Spaziergänge über das Land unternommen und sich die Zeit mit Spinnen vertrieben. Sie hatte viel gelernt über das Leben auf dem Land. Denn die Alqueria diente trotz ihrer Bequemlichkeit nicht dem Vergnügen, sondern war der Mittelpunkt einer straff organisierten Landwirtschaft.
Am Tag nach ihrem ersten gemeinsamen Ausflug hatte Alejandro ihr eine Seidenzucht unweit der Alqueria gezeigt. Doch sie bot keine wirkliche Überraschung. Mit ihren langgezogenen Holzschuppen für die Aufzucht der Seidenspinner glich sie jener, welche Herman einst erfolglos bei Meckenheim hatte anlegen lassen. Freilich mit dem Unterschied, dass hier wirklich Seide gewonnen wurde und dass die sie umgebenden Reihen von Maulbeerbäumen in kräftigem Grün standen.
»Was ist mit dir?«, fragte Alejandro besorgt. »Du hast das Essen ja gar nicht angerührt. Schmeckt es dir nicht?«
»Doch.« Fygen nahm den Löffel wieder auf. An der dampfenden Paella, die Marcos, der Verwalter, ihnen serviert hatte, lag es nicht. Die war hervorragend. Die großen Stücke frischen Hühner- und Kaninchenfleisches hatten den Geschmack und die warme Goldfarbe des Safrans angenommen und lagen in einem Bett aus Bohnen und feinem Reis aus der Gegend um die Albufeira, die große Süßwasserlagune südlich der Stadt.
Fygen hatte heute einfach keinen Appetit. Mit jedem Feld, das abgeerntet wurde, mit jedem Blatt, das sich golden färbte, zeigte ihr das Land um sie her deutlich, dass der Sommer zu Ende ging. Und mit ihm ihr Aufenthalt in Valencia.
Immer wieder hatte Fygen ihre Heimreise hinausgezögert. Hatte nicht darüber nachdenken mögen, dass es nur eine geliehene Zeit war, in der sie und Alejandro lebten. Doch nun gab es keinen Aufschub mehr. Sehr bald schon würde sie reisen müssen, wenn sie Köln erreichen wollte, bevor die Seefahrt wegen der Herbststürme für dieses Jahr eingestellt würde.
Ein Seufzer schlich sich über ihre Lippen, und sie schob den Teller von sich. Wenn sie jetzt nicht reiste, würde sie bis zum April warten müssen, denn erst im nächsten Frühjahr gingen wieder Schiffe nach Norden. Einen unsinnigen Moment lang erwog Fygen den Gedanken, doch sie verwarf ihn bereits im nächsten Augenblick. Viel zu lang schon hatte sie ihren Aufenthalt hier ausgedehnt und die Faktorei in den noch recht unerfahrenen Händen ihres Lehrjungen zurückgelassen.
Überdies wurden ihr allmählich die Tage lang, wenn Alejandro seinen Geschäften nachging. Eine
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