Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
Vom Netzwerk:
und zeichnete sein helles Muster auf die honigfarbenen Bodendielen.
    Es war die Tür zu Hermans Kammer, erkannte Lisbeth, dem Raum, den er bereits bewohnt hatte, als sie alle noch Kinder waren. Ein dumpfer Laut drang aus der Kammer – Lisbeth erschien es wie ein Stöhnen. Ohne ihren Schritt zu dämpfen, ging sie auf den Lichtstreif zu und öffnete die Tür.
    Im Raum schien niemand ihr Eintreten zu bemerken. Auf der Bettstatt, gleich der Tür gegenüber, lagen zwei Menschen in leidenschaftlicher Umarmung. Die Kleider hatten sie von sich geworfen, und ganz so, wie der Herrgott sie geschaffen hatte, erfreuten sie einander.
    Lisbeth schrak zurück. Doch bevor sie schamvoll den Blick abwenden konnte, hatte sie bereits den dunklen Schopf von Alberto erkannt und kam nicht umhin zu schmunzeln. Der Luchese war ein anziehender Mann. Mit seinem samtenen Blick aus dunklen, mit langen Wimpern umkränzten Augen mochte er leicht einem Mädchen den Kopf verdrehen. So war also eine der jungen Mägde seinem südländischen Charme erlegen, dachte Lisbeth, aber welche mochte es sein?
    Die Neugier besiegte ihre Schamhaftigkeit, und sie riskierte einen zweiten Blick. Die Magd war blond, hatte lockiges Haar. Doch es konnte kaum die Marie sein, denn die war kurz und breithüftig. Die Frau hier jedoch war schlank und groß, hatte kräftige Gliedmaßen und einen muskulösen Körper – bald zu muskulös und zu groß für eine Frau, dachte Lisbeth.
    In dem Moment wandte die blonde Magd sich zu ihrem Liebhaber um, und Lisbeth presste die Hand auf den Mund, um nicht laut zu schreien. Es war keine Magd, die sie da in inniglicher Umarmung mit Alberto überrascht hatte. Himmel stehe ihr bei – es war ihr Bruder Herman.
    Verdattert starrte Lisbeth auf die Bettstatt, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Doch die beiden Männer nahmen immer noch keine Notiz von ihr. Herman und Alberto – sie machten sich der stummen Sünde schuldig!
    Lisbeths Gedanken überschlugen sich. Hatte die beiden eine plötzliche Leidenschaft übermannt? Beide waren unbeweibt. Vielleicht hatten sie sich im Rausch dazu hinreißen lassen.
    Heilige Mutter Gottes, lass es nur eine einmalige Verirrung sein, bat Lisbeth. Doch es war offensichtlich, dass dies hier nicht der exzessive Ausgang einer Zecherei war. Es war ein Akt zwischen Liebenden. Herman und Alberto verband mehr als eine Männerfreundschaft, erkannte Lisbeth, weit mehr.
    Sie spürte, wie sich ihr die feinen Härchen an den Unterarmen aufstellten, und ihr Gesicht verlor alle Farbe. Jetzt, wo sich Lisbeth ihr gefährliches Geheimnis offenbart hatte, fügte sich alles zusammen wie Steine zu einem Mosaik. Niemand hatte sich je daran gestoßen, dass Alberto in der Wolkenburg wohnte, so wie Herman einst bei ihm auf seinem Landgut in Lucca. Es war nicht ungewöhnlich, dass Gäste, die von weither kamen, ihre Besuche über Jahre ausdehnten, zumal in wohlhabenden Häusern.
    War dies der Grund, warum Herman und Alberto Lucca verlassen hatten? Waren sie in Italien verfolgt worden, weil der Herrgott sie mit ihrer unnatürlichen Liebe zueinander geschlagen hatte? Stets waren Alberto und Herman freundschaftlich miteinander umgegangen, nie hatte sie ein harsches Wort zwischen ihnen vernommen. Doch sie wäre nie auf den Gedanken verfallen, dass die beiden wie Mann und Weib zusammenlebten.
    Kein Wunder, dass Herman auf ihren Versuch, zwischen ihm und Clairgin eine Ehe zu stiften, so harsch reagiert hatte. Er hatte seine Liebe bereits gefunden, wenn auch auf eine so tragische Weise.
    Ein kalter Schauder jagte Lisbeth über den Rücken. Sodomie! Sie wagte kaum, das Wort zu denken. Es war grauenvoll!
    Nicht, dass Lisbeth die Sache an sich so entsetzlich fand. Es befremdete sie zwar und es war wider die Natur, doch die beiden taten in ihrer Liebe zueinander ja niemandem etwas zuleide.
    Das Schreckliche war, dass Herman und Alberto damit ihren Ruf und womöglich ihr Leben aufs Spiel setzten. Sie waren so leichtsinnig! Wenn man sie dabei erwischen würde, wie sie … Lisbeth mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. Nicht auszudenken, was geschehen mochte, wenn die Sache ruchbar würde.
    Unwillkürlich begann Lisbeth zu zittern. Immer noch stand sie wie gebannt im Türrahmen und starrte auf Albertos sehnigen Rücken, als sie plötzlich eine Berührung an ihrer Schulter spürte. Erschreckt fuhr sie herum.
    Es war Stephan, der neben ihr in der Düsternis des Flures stand. Hastig zog Lisbeth die Tür zu Hermans Kammer zu. Doch es war

Weitere Kostenlose Bücher