Die Tochter der Suendenheilerin
um unserem Dasein einige schöne Augenblicke abzutrotzen. Ich glaube, Thomas und Amira empfanden ähnlich. Zudem nahm mein Bruder bei der Arbeit seine Umgebung oft gar nicht mehr wahr. Ausgerechnet in der Knechtschaft durfte er endlich dem Handwerk nachgehen, das ihm größte Freude bereitete. Aber das war noch nicht alles – irgendwann achtete ich Wakur nicht nur, sondern ich fing an, ihn zu mögen. Verrückt, nicht wahr?«
»Dafür hattest du wahrscheinlich gute Gründe«, erwiderte Karim.
Stephan nickte. »Die hatte ich. Denn da gab es noch Hakan, den Hauptmann von Rafiks Wachmannschaft. Hakan konnte mich nicht ausstehen, war ich doch Christ und ehemaliger Kreuzritter.« Wieder sehnte er sich nach einem Becher Wein, um die Erinnerungen besser ertragen zu können. »Hakan war ein Mistkerl, der mich anfangs unterdrückte, wo er nur konnte. Ich musste mich immer wieder zusammennehmen, um ihm nicht mit der Faust zu antworten. Aber ich wusste, dass ich mir damit noch mehr Ärger eingehandelt hätte. Also setzte ich mich auf andere Weise zur Wehr. Jedes Mal, wenn er mir übel mitspielte, sagte ich: ›Ich vergebe dir.‹ Diese Worte machten ihn nur noch wütender, und ich frohlockte im Stillen. Einmal verlor er die Beherrschung und prügelte wie besessen auf mich ein. Ich dachte schon, er würde mich totschlagen, als er plötzlich zurückgerissen wurde. Wakur hatte ihn gepackt und versetzte ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht. So heftig, dass Hakan gegen die Stallwand flog und eine Weile benommen liegen blieb. Wakur richtete sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. ›Du wirst ihn künftig in Ruhe lassen‹, sagte er. Nur diesen einen Satz, mehr nicht. Zu meiner großen Überraschung nickte Hakan und trollte sich. Danach ließ er mich tatsächlich in Ruhe. Bis zu jenem Tag, als ich Ambroise Lacroix wieder begegnete …«
»Wehe, du hörst jetzt auf zu erzählen!«
Stephan lachte. »Keine Angst! Du wolltest wissen, wie Thomas und ich entkommen sind. Das wirst du heute erfahren.«
»Was hatte Ambroise Lacroix mit eurer Flucht zu tun?«
»Gar nichts. Eines Morgens brachte ich die Pferde wie üblich auf die Weide, die zu Rafiks zweitem Gut am Stadtrand gehörte. Die Stadtwache war in diesen Tagen besonders aufmerksam, denn immer wieder strichen versprengte Kreuzritter durch die Gegend und raubten alles, was sie in die Finger bekamen. Einem Nachbarn von Rafik hatten sie einige Zeit zuvor mehrere Pferde gestohlen und den Mann getötet, der sie bewacht hatte. Doch daran dachte ich an diesem Morgen nicht. Ich ließ Zeki wie immer auf einem der Tiere reiten, während ich sie führte. Doch kurz bevor wir die Koppel erreichten, bemerkte ich vier gesattelte Pferde, die so versteckt angebunden waren, dass sie einem zufällig Vorbeikommenden nicht sogleich ins Auge fielen. Ich hob Zeki vom Pferd und befahl ihm, Rafiks Wächtern Bescheid zu sagen. Aus meiner Sicht sprach alles für einen bevorstehenden Überfall. Zeki erschrak, denn er hatte große Angst vor Hakan und seiner Wachmannschaft, aber er gehorchte und flitzte los. Ich hatte gerade das Gatter geöffnet und die Pferde auf die Weide geführt, als mir drei Männer zu Fuß entgegenkamen. Anhand ihrer Kleidung erkannte ich sie sofort als ehemalige Kreuzritter. Rasch löste ich den Führstrick und trieb die Pferde auseinander.
›Oha, da sieh einer an!‹, rief einer der drei auf Französisch. ›Stephan von Cattenstedt!‹ Es war Ambroise Lacroix. Er zog sein Schwert und stieß mit der Spitze gegen mein Halseisen. ›Du hattest anscheinend nicht so viel Glück. Aber das können wir ändern. Kommst du mit uns?‹
›Ich lasse Thomas nicht im Stich‹, erwiderte ich.
›Ach ja, Thomas …‹ Lacroix pfiff abfällig durch die Zähne. ›Bruder hin oder her – entscheide dich rasch! Hier ist sich schließlich jeder der Nächste.‹
Plötzlich hörte ich eine Frau schreien. Ein vierter Mann näherte sich, hatte ein junges Mädchen gepackt und stieß es vor sich her.
›Seht nur, was ich gefunden habe!‹, brüllte er.
Ich erschrak, denn es war Jamila, die älteste Tochter von Rafik ben Tahir. Gewöhnlich verließ sie das Haus nie ohne Begleitung.
›Nun, die reicht für uns alle, oder? Also, was ist, Stephan? Freiheit und ein Mädchen? Das wäre doch ein Angebot.‹
›Lasst sie gehen‹, forderte ich. ›Sie hat euch nichts getan.‹
›Oh, ich vergaß! Du warst ja schon immer der Beschützer der Schwachen. Der edle Ritter. Und was hat es dir
Weitere Kostenlose Bücher