Die Tochter der Suendenheilerin
gekommen, und Meinolf hätte keine Gelegenheit gehabt, sich vor seinem Vater ins beste Licht zu setzen. Wie anders war es gewesen, als Madlen noch gelebt hatte! Sie war klug und gewitzt, hatte Meinolf meist mit wenigen Worten wie einen dummen Jungen heruntergeputzt. In den letzten beiden Jahren erinnerte ihn Sibylla immer mehr an Madlen, aber sie war noch jung, hatte noch nicht die Kraft ihrer Mutter. Ohne recht zu wissen, wohin ihn seine Schritte lenkten, hatte ihn sein Weg in die Kinderstube geführt. Burchard war ein prächtiger Junge und trotz seiner fünf Jahre schon sehr verständig. Wie sehr hatten er und Madlen sich über seine Geburt gefreut. Doch auf jede Freude, die ihm vergönnt war, folgte die Bitternis. Die Geburt war schwer gewesen, Madlen hatte sich nie mehr ganz erholt, und drei Monate nach Burchards Geburt hatte Gott sie heimgerufen. War es ein Zufall, dass Meinolfs Flamme in der Stunde, da Madlens Licht erlosch, zu neuer Stärke aufloderte? Eberhard war sich nicht sicher. Als Madlen noch lebte, hatte Meinolf sich stets zurückgehalten, denn Ulf schätzte seine Schwiegertochter. Ihr Wortwitz und ihre Stärke hatten ihm gefallen. Manchmal hatte er sie gefragt, was sie an einem so tumben Zeitgenossen wie seinem Sohn nur finde, doch Madlen war ihrem Gatten niemals in den Rücken gefallen. Ihrer Liebe konnte Eberhard sich stets gewiss sein. Ebenso wie sie sich der seinen.
»Vater!« Der kleine Burchard hatte bemerkt, dass Eberhard die Stube betreten hatte, und lief ihm entgegen. »Kommst du, um mit mir die Pferde zu besuchen?«
Eberhard nahm ihn auf den Arm. »Ja«, sagte er, »nur du und ich.« Zuzusehen, wie geschickt Burchard sein Pony beherrschte, würde ihn von seinen Sorgen ablenken.
19. Kapitel
N ichts lässt sich erzwingen.« Lena schenkte ihrer Tochter ein liebevolles Lächeln. »Schon gar nicht bei einem Mann wie Stephan.«
»Aber du hast doch die Gabe«, beharrte Antonia. »Du siehst und fühlst, was die Menschen belastet. Warum kannst du sein Leid nicht lindern?«
»Komm, setz dich zu mir!« Ihre Mutter rückte auf der steinernen Bank in dem kleinen Garten ein wenig zur Seite, und Antonia nahm neben ihr Platz. »Jeder Mensch hat die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob und wann er Worte für das Unaussprechliche findet«, fuhr Lena fort. »Zurückhaltung und Achtung vor dem Wunsch eines anderen sind Teil der Gabe. Wir müssen vor allem zuhören, nicht immer nur fragen.«
»Hat Gott dir deshalb diese Gabe geschenkt? Weil du zuhören kannst?«
Lena musterte ihre Tochter mit prüfendem Blick. »Das klingt, als würdest du dich selbst nach einer solchen Gabe sehnen.«
»Ich weiß nicht …«, gab Antonia zu. »Zumindest sehne ich mich danach, den Beladenen zu helfen.«
»Allen oder nur Stephan?«
Antonia spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Ich glaube, er braucht unsere Hilfe am dringendsten. Er hat so viel Schweres durchlitten«, wich sie aus.
»Und wie willst du ihm helfen?«
Diese Frage verunsicherte Antonia. »Ich weiß es nicht. Darauf erhoffte ich mir eigentlich von dir eine Antwort.«
Lena griff nach der Hand ihrer Tochter. »Möchtest du Stephan wirklich helfen, oder möchtest du einfach nur sein Geheimnis ergründen?«
»Natürlich möchte ich ihm helfen.«
»Dann lass ihm seine Ruhe! Du hast in deinem Leben niemals wirkliches Leid erlitten, Antonia. Du hast nie erlebt, wie es ist, wenn sich schreckliche Ereignisse in deinen Träumen immer von Neuem wiederholen, dich sogar im Wachen heimsuchen. Wer so etwas durchleidet, spricht ungern darüber, denn er ist froh, wenn er nicht von den Schrecken verfolgt wird. Hast du dich noch nie gefragt, warum Stephan so wortkarg ist?«
»Weil er Schweres erlebt hat?«
»Wer viel redet, wird viel gefragt. Und Fragen sind oft qualvoll, können den Betroffenen zwingen, sich erneut den alten Bildern zu stellen. Und die weitaus meisten Fragen werden aus Neugier gestellt. Natürlich gibt das kaum jemand zu. Man nennt es Anteilnahme, doch in Wahrheit geht es vielen nicht um den Leidenden, sondern nur um ihr eigenes Bedürfnis. Viele Menschen ergötzen sich unter dem Deckmäntelchen des Mitleids am Leid des anderen.«
»Das täte ich niemals!«
»Nicht absichtlich. Aber je mehr du in einen anderen Menschen dringst, umso mehr raubst du ihm die Freiheit, selbst zu entscheiden, was er preisgeben möchte und was nicht. Vielleicht schenkt Gott die Gabe deshalb nur Menschen, die selbst Leid erfahren haben, die wissen, wie es
Weitere Kostenlose Bücher