Die Tochter der Suendenheilerin
sich anfühlt, am Rand des Todes zu stehen, und die die Schatten kennen. Ich war so alt wie du, als ich die Gabe in mir entdeckte. In den dunkelsten Tagen meines Lebens. Als sie mir half, selbst zurück ins Heil zu finden.«
Antonia seufzte. »Vater meint, ich sei ihm vom Temperament her zu ähnlich, ich wisse nicht, wann es nachzugeben gelte.«
Ihre Mutter lächelte. »Da hat er nicht ganz unrecht. Dein Vater konnte sich mir erst öffnen, nachdem ich überhaupt nicht mehr nachfragte. Denn die Worte müssen dann einen Weg finden, wenn es an der Zeit ist. Nicht, wenn wir darauf hoffen.«
»Aber … was ist, wenn man über die Zurückhaltung vergisst, dem Betreffenden eine Brücke zu bauen? Wie sollte Stephan den Mut finden, sich an dich zu wenden, wenn die Zeit gekommen ist? Ich glaube nicht, dass er es täte. Du bist die Gräfin – glaubst du wirklich, er würde dich aus freien Stücken um Hilfe ersuchen?«
»Nur wenn er sie bräuchte. Und nicht für jeden Menschen ist es gut, Erinnerungen zu wecken, die tief in ihm verborgen sind.«
»Welches Geheimnis mag Stephan wohl hüten?«
»Es geht dir also doch um sein Geheimnis!« Lena zwinkerte ihrer Tochter zu. Antonia senkte verlegen die Lider.
»Nun«, fuhr ihre Mutter fort, »vermutlich hat er während des Kreuzzugs in menschliche Abgründe geblickt, Erschreckendes gesehen, dessen Vorhandensein du nicht einmal erahnst. Und womöglich hat er auch in die eigenen Abgründe geblickt. Meist sind es unsere eigenen Taten, die uns am meisten quälen.«
»Du glaubst, er hat Verbrechen begangen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich bin überzeugt, dass er glaubt, Böses getan zu haben. Das Verglimmen einer Seelenflamme geht bei einem starken Menschen oft mit schweren Schuldgefühlen einher.«
»So ist seine Seelenflamme am Verglimmen?« Die Aussage der Mutter traf Antonia wie ein Fausthieb.
»Er kämpft dagegen an. Er lebt und wird weiterleben. Aber ein Teil seiner Lebensfreude ist gestorben, und es fragt sich, ob die verbliebene Kraft seine Wunde zu schließen vermag.«
»Und wir können nichts tun?«
»Nicht gegen seinen Willen.«
In dem Gespräch mit ihrer Mutter hatte Antonia keine der erhofften Antworten erhalten. Ziellos streifte sie danach durch den Burghof. War sie wirklich nur neugierig? Ging es ihr tatsächlich einzig darum, Stephans Geheimnis zu ergründen? Warum in Gottes Namen fühlte sie sich von diesem Mann so sehr angezogen, dass es anscheinend jedem Burgbewohner aufgefallen war? Hatte sie sich lächerlich gemacht? Stephan begegnete ihr nach wie vor höflich, hatte mehrfach verneint, dass er sich von ihr belästigt fühle. Andererseits hatte er ihr nicht den kleinsten Hinweis gegeben, dass sie ihm mehr bedeutete als die anderen. Verrannte sie sich wirklich in eine Phantasie?
Noch dazu konnte sie sich selbst nicht erklären, warum dieser Mann ihre Gedanken beherrschte, warum sie ständig an ihn denken musste, warum ihr Herz klopfte, sobald sie ihn sah. Es war einfach geschehen, irgendwann. Und sie hatte keine Macht darüber.
Jemand stieß ihr von hinten gegen die Waden. Sie fuhr herum. Es war Nebet, die sich lautlos angeschlichen hatte und den Kopf an ihren Beinen rieb. Antonia erschrak, doch dann rief sie sich die Harmlosigkeit des zahmen Raubtiers ins Gedächtnis und tätschelte ihm den Schädel. Nebet begann zu schnurren wie eine Hauskatze.
Sachmet war der Gepardin in den Burghof gefolgt. »Sie mag dich«, stellte sie fest.
»Ich hätte nie vermutet, dass sie sich wie ein Kätzchen aufführt.« Trotz ihrer unerquicklichen Gedanken zuvor musste Antonia lachen.
»Nebet vereint die Majestät der Katze mit der Treue eines Hundes«, erwiderte Sachmet und streichelte die Gepardin ebenfalls. Plötzlich hielt sie inne.
»Oh, da hinten scheinen düstere Wolken aufzuziehen.« Sachmet nickte in Richtung der Ställe. »Ich hätte nicht gedacht, dass der sogar noch finsterer dreinschauen kann. Irgendwie ein merkwürdiger Bursche, findest du nicht?«
Antonia folgte dem Blick der Ägypterin. Stephan führte sein Pferd aus dem Stall, band es an einem kleinen Pfosten an und begann mit dem Striegeln. So wie jeden Morgen. Als er noch neu auf der Burg gewesen war, hatte sie sich gewundert, dass er diese Arbeit nicht den Stallknechten überließ. Überhaupt schien er sich für bestimmte Tätigkeiten nicht zu schade zu sein. So hatte sie einmal beobachtet, wie er selbst die Futterkrippen der Pferde mit Hafer gefüllt hatte, weil der Knecht, der damit betraut
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