Die Tochter der Suendenheilerin
weil wir keinen Widerstand leisteten, und begriff nicht, welche Absicht wir damit verfolgten. Tja, und dann kam der Tag, an dem er starb.« Stephan brach ab und hielt Karim seinen leeren Becher hin. Der schenkte nach.
»Das war ungefähr vier Wochen später. Ich war seit etwa einer Woche für die Stallungen und die Pferde verantwortlich, die auf dem Gut gehalten wurden. Das war mir nur recht. Ich mag Pferde und träumte immer von einem eigenen Gestüt. Außerdem war diese Tätigkeit von Vorteil für eine spätere Flucht. Ich kannte die Tiere, wusste, welche von ihnen schnell und ausdauernd waren. Aber noch lag eine Flucht in weiter Ferne. Wie Thomas schon gesagt hatte – Weglaufen war einfach. Die Kunst bestand darin, nicht wieder eingefangen zu werden.«
Stephans Blick schweifte erneut über die dunklen Wälder. Wieder sah er die Bilder von damals vor seinem inneren Auge, die Pferde, Bespinas fünfjährigen Sohn Zeki, der sich so gern in den Ställen herumtrieb, ihm beim Striegeln half und sich zeigen ließ, wie Hufe ausgekratzt wurden.
»Zu meiner Aufgabe gehörte nicht nur das Ausmisten und die Versorgung der Tiere, sondern auch das Satteln der Pferde, die an jenem Tag gebraucht wurden«, fuhr er fort. »Sebastien schien seinen Widerstand zwei Tage zuvor aufgegeben zu haben, sodass Wakur ihm befohlen hatte, mir zur Hand zu gehen. Du kannst dir meine Begeisterung vorstellen, aber Wakur hatte sich etwas dabei gedacht. Sebastien sprach wie ich kein Arabisch, und zumal er mich hasste, konnte Wakur sicher sein, dass wir gemeinsam nichts aushecken würden. Während ich die Pferde striegelte und anschließend sattelte, mistete Sebastien den Stall aus. Ich stand gerade neben dem Pferd von Rafiks Sohn Faris, als ich einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf bekam und sofort benommen zu Boden ging. Als ich wieder zu mir kam, sah ich, wie Sebastien auf Faris’ Pferd durch das Tor galoppierte. Neben mir lag die Mistforke, an ihrem Stiel klebte mein Blut. Ich rappelte mich mühsam auf und tastete nach der Platzwunde an meinem Schädel. Sie war zum Glück nicht tief, und die Blutung ließ bald nach. Das Geschrei im Hof war indes ohrenbetäubend. Bewaffnete schwangen sich auf die erstbesten Reittiere und setzten Sebastien nach. Natürlich fassten sie ihn bald darauf. Und anschließend wurde er vor aller Augen an der Stallwand geköpft. Als Warnung für jene, die mit dem Gedanken an Flucht spielen mochten.«
»Eine grausame Strafe«, bemerkte Karim.
»Thomas wiederholte, was er zuvor schon über Sebastien gesagt hatte – es war seine Art zu sterben. Er hatte es billigend in Kauf genommen. Wir hingegen wollten leben.«
»Und wie seid ihr schließlich entkommen?«
Stephan hob den Blick zum Nachthimmel. In der Ferne schien das Schwarz bereits vom Blau des aufziehenden Morgens durchbrochen zu werden. »Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Es ist schon spät.«
»Immer hörst du an der spannendsten Stelle auf.«
»Nein, immer dann, wenn der Weinkrug leer ist. Gute Nacht, Karim.«
31. Kapitel
M uss das wirklich sein?« Meret musterte Rudolf mit einem Stirnrunzeln.
»Ja«, sagte er knapp und band das Seil am Fensterkreuz fest.
»Du siehst sie doch ohnehin jeden Tag. Ich habe jedes Mal Angst, dass du abstürzt.«
»Du solltest inzwischen wissen, dass mir nichts geschieht.«
»Kaum geht es dir besser, wirst du wieder übermütig.«
»Für eine Elfjährige bist du ganz schön vorlaut.«
»Irgendjemand muss doch auf dich aufpassen.«
»Ach? Du auf mich?«
»Ja.«
»Nun, dann pass gut auf, dass keiner kommt und das Seil durchschneidet, während ich zu Sibylla hinunterklettere.«
Rudolf hörte Meret laut aufseufzen und konnte sich bildlich vorstellen, wie sie hinter seinem Rücken die Augen verdrehte. Doch er musste Sibylla sehen. Jetzt, solange er noch er selbst war, denn er spürte, dass die Dunkelheit der vergangenen Tage dem lodernden Feuer wich, das ihn zu einem Menschen machte, der sich für unfehlbar und unüberwindlich hielt. Zu einem Menschen, der seine Worte nicht mehr abwägte, sondern hemmungslos und ohne Rücksicht auf nachteilige Folgen drauflosredete.
Als er zaghaft an Sibyllas Fenster klopfte, öffnete sie ihm höchst überrascht.
»Herr Rudolf, ich hatte nicht erwartet, dass Ihr diesen Weg jemals wieder nehmt!«
»Verzeiht, wenn ich ungelegen komme, aber es muss sein. Darf ich eintreten?«
Sie lachte leise. »Das wisst Ihr doch.«
Er stieg durch das Fenster in die Kemenate und nahm auf dem
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