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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Nacht wahrnahm. Das Pferd zeigte nicht die geringste Angst, während Atan lediglich pfiff; es war kein lautes Pfeifen, aber die Hunde duckten sich mitten im Schwung. Atan streckte den Arm aus; die Hunde gaben einige Geräusche von sich, dann zogen sie sich beruhigt zurück. Als ich mit steifen Beinen aus dem Sattel stieg, lachten mir die Hirten, Männer und Frauen, freundlich entgegen. Sie rückten zusammen, boten mir eine Stelle an ihrem Feuer an. Während Atan den Hengst von seinem Sattel befreite, setzte ich mich zu den Hirten, hielt meine Hände an die wärmende Glut. Yakmist, zu kleinen Kugeln geformt und getrocknet, war das hauptsächliche Brennmaterial. Die Männer fachten das Feuer neu an, bliesen mit einem Blasebalg aus Ziegenfell Luft unter die dürren Wacholderzweige, legten Holz nach; in dem großen Kessel kochten sie frisches Teewasser. Ich sah zu, wie eine alte Frau aus einem Lederbeutel einen Teeziegel nahm, etwas davon abbrach, die getrockneten Blätter in den alten Kessel warf. Die Frau hatte ein dunkles, gutmütiges Gesicht voller Falten und Runzeln. Sie schnitt ein großes Stück Dributter ab, warf es ins kochende Wasser, das sie kräftig umrührte. Aus einem Beutel zog sie eine Handvoll Salz, schüttelte den Kessel ein zweites Mal. Dann band sie die Ärmel ihrer Tschuba los, die sie, um Bewegungsfreiheit zu haben, fest um die Taille geknotet hatte. Sie benutzte sie als Topflappen, packte damit den dampfenden Kessel und goss den Inhalt in eine Thermoskanne, die sie wiederum kräftig schwenkte.
    Inzwischen hatten mich die Hirten – zu denen einige Halbwüchsige gehörten – in ihrer vertrauten Art begrüßt; sie wollten wissen, woher ich kam, ob ich verheiratet sei, wie viele Kinder ich hatte. Als sie erfuhren, dass ich Ärztin war, baten sie um 216
    Medikamente; darauf war ich vorbereitet und verteilte einige Tabletten. Viele ihre Arzneien stellten die Nomaden aus Kräutern her, die sie mit eigenen Händen sammelten, in der Sonne trockneten und zu Pulver verrieben. Einige dieser Mittel kannte ich gut; ich wusste, wie wirksam sie gegen Fieber oder Durchfall waren. Dass die Nomaden auf die Mittel der modernen Pharmakologie erpicht waren, wunderte mich allerdings nicht. Sie hatten einen ebenso einfältigen wie uneingeschränkten Glauben an die Erzeugnisse der modernen Medizin. Sie wurden nicht selten Opfer der Willkür chinesischer Ärzte, die ihre Gutgläubigkeit schamlos missbrauchten und alle möglichen Präparate an ihnen ausprobierten.
    Atan, der inzwischen sein Reittier versorgt hatte, setzte sich zu uns. Wir teilten mit den Hirten ihr einfaches Mahl aus Hammelfleisch, Tsampa und Zwiebeln. Dazu tranken wir die dickflüssige, stark gesüßte Dri-Milch und jede Menge Buttertee.
    Inzwischen hörten wir aus der Ferne das Stampfen und Pusten der Yaks, die langsam den Hang hochwanderten. Manchmal knurrte ein Hund oder ließ ein verschlafenes Bellen hören. Ein alter Mann fragte mich, ob ich nicht Fotos Seiner Heiligkeit verschenkte. Das täten Touristen manchmal. Schuldbewusst gab ich zu, dass ich keine Aufnahme des Dalai Lama bei mir hatte. Zu Atan sagte ich:
    »Ich wollte kein Risiko eingehen.«
    »Kontrollen sind überall«, erwiderte er gleichmütig.
    Er sah mich über das Feuer hinweg an, dessen roter Glanz auf seinem Gesicht flackerte.
    »Oft beobachten uns die Soldaten, im Sommer ganz besonders.
    Ihr Gedächtnis ist nicht besser als unseres, aber sie speichern alle Daten in ihren Computern.«
    »Ich verstehe. Der Tee ist gut«, setzte ich mit Nachdruck hinzu.
    Er nickte, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
    »Ja, sie haben sich wirklich Mühe gegeben.«
    Die Hirten waren sehr redselig, lachten kindlich und scheinbar –
    aus lauter Verlegenheit – ohne Grund. Trotz der Härte ihres Lebens drückte ihre Gegenwart Unbeschwertheit aus. Ich spürte eine tiefe, schmerzvolle Liebe für diese arbeitsamen, gutmütigen Menschen; tapfere, kluge Frauen und Männer, die mit der wilden und großartigen Bergwelt, mit den Stürmen, der Trockenheit, der Sonnenglut vertraut waren. Menschen, die ihre Götter hatten, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Gesänge und Gedichte, deren Reichtum und Vielfältigkeit ich nur ahnen konnte. Das Herz tat mir 217
    weh, weil ich fühlte, wie ihre innere Welt gedemütigt und missachtet wurde, wie ihre Gaben verkümmerten. Doch hier, in den Bergen, führten die Geister ein Leben voller Herrlichkeit, und ihre verzauberte Gegenwart gab der Erinnerung einen Begriff von

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