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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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für die Lebensmittel. Kunstdünger und Pestizide laugen den Boden aus, die Giftwerte steigen, die Zahl der Krebskranken nimmt zu, aber der neue Fünf-Jahres-Wirtschaftsplan fordert Uneigennutz. Ja, und die 213
    Han überwachen uns mit ihren Ferngläsern; ansonsten können wir nicht klagen.«
    Ich rieb mein Gesicht an seinem Rücken, lauschte auf die Resonanz seiner sanften, sarkastischen Stimme.
    »Und wie steht es mit dir?«
    »Mit mir?«
    Jetzt lachte er leise.
    »Ein alter Knacker, etwas schrullig, ja? Und oft betrunken. Nicht besonders helle, aber harmlos. Naturgemäß kennt er sich mit Tieren gut aus. Er kann auch ein Lenkrad in die Hände nehmen, das schon, und parken, wie es sich gehört. Rechnen bereitet ihm kein Kopfzerbrechen, aber er weiß nicht, wie man einen Fragebogen ausfüllt. Vor Rolltreppen und Drehtüren hat er Respekt, und wie eine Telefonzelle funktioniert, das müssen ihm die Chinesen erst beibringen. Und für gewöhnlich bringt man ihm Milde, Geduld und Verständnis entgegen.«
    »Du bist wirklich ein sonderbarer Kerl!«
    Er legte sich wohl immer noch mit den Chinesen an.
    »Ich habe dich schon hundertmal tot gesehen, Atan.«
    »Ich bin schon hundertmal gestorben.«
    »Atan, hör auf, das ist wirklich nicht lustig.«
    »Nicht immer. Das gebe ich zu.«
    »Du kannst es also nicht lassen.«
    »Was soll ich denn sonst mit mir anfangen?«
    »Du sollst dich um deine Yaks kümmern. Und Nudeln essen.
    Und auf mich warten.«
    »Es könnte meine Art sein, auf dich zu warten«, sagte er. Ein letzter Lichtschleier hing über den fernen Bergen. Die umliegenden Felsen hatten viel Sonnenwärme angenommen. Am Himmel glühten die Sterne, und in ihrem blaufahlen Licht schienen die Steine einen eigenen schwachen Schimmer auszustrahlen. Die Glückszeichen, weiß und blau, leuchteten regenbogenfarbig aus Höhlen schwarzen Lichts, wobei die eingeritzten Schriftzeichen scharfe Linien zeichneten. Ich wusste, dass diese Zeichen alles erklärten, allen Schmerz und alle Wunden heilten, denn dies war ihre Bestimmung.
    Den Kopf an Atans Schulter gedrückt, dachte ich an die vielen Orte dieser Welt, wo das Böse sich gegen alles richtete, was blutwarm und frei und lebendig war. Gefangen in diesem Schlamm von Rohheit, Profitgier und brutaler Willkür, war die stolze und unbändige Kraft der Tibeter unzerstörbar. Wie musst du dein Volk 214
    mit allen Schmerzen lieben, Atan! So viel Mühe, Geschicklichkeit und Ausdauer – wozu? Wie unsicher und schwankend ist dein Widerstand, um den du täglich von neuem ringst, unter Einsatz deines Lebens? Auf Schritt und Tritt begegnest du der durchtriebenen Brutalität einer Großmacht, die alles zertrampelt, was ihrer Profitgier im Weg ist. Die Chinesen verbreiten Unwahrheiten und Verleumdung, die Tibeter verbluten schweigend; es ist nicht ihre Art, große Worte zu machen. Welches Ziel hast du, Atan? Die Freiheit? Doch wie? Die Freiheit weicht zurück, endlos, entzieht sich, wird unerreichbar. Atan, sag, was siehst du in deinen Träumen?
    Spiegelt sich tief in deiner Erinnerung das Bild einer Frau, die auf einem Turm steht und singt? Hörst du manchmal ihre Stimme? Sie webte daraus eine Zauberkraft, einen Schleier aus Gestirnen und Geistern. Und die Feinde gingen an dem Schleier vorbei, dreiundsechzig Tage lang, und zogen ihn nicht weg von der Stadt, den er beschützte.
    Dann schienen die Sterne nicht mehr. Geschwader verdunkelten den Himmel. Türme explodierten, Mauern zerbarsten, Menschen wirbelten als brennende Fackeln durch die Luft. Auch eine Stadt lebt, wie ein Mensch, ihr eigenes Leben; sie starb ihren eigenen Tod, aber unser Leben geht weiter.
    Die Luft war von Kälte getränkt, die kristallene Himmelsschale wölbte sich grenzenlos. Alles Unerforschte und Unbegreifliche im Menschen war hier, in dieser Unendlichkeit. Atan hob den Arm.
    »Wir sind da«, sagte er.
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22. Kapitel

    M an hatte gerade die Tiere heimgetrieben. Die Yaks weideten zwischen den Jurten. Ein kräftiges Feuer brannte. Die Hirten hockten im Kreis um die wärmenden Flammen; das Essen wurde in Kesseln angerührt, große Holzzylinder standen zur Bereitung des Buttertees bereit. Die warme Sonne tagsüber hatte den Schnee geschmolzen: Das Wasser rann auf tausend Wegen zwischen den Gräsern. Die meisten Berge waren über der Baumgrenze kahl, aber alle Hochtäler boten vorzügliches Weideland. Große Hunde, langhaarig und struppig, sprangen uns entgegen; ich hörte sie, noch bevor ich ihre dunklen Umrisse in der

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