Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
beklagt unser Schicksal, aber die Wirtschaftsbeziehungen zu China sind wichtiger. Was sind wir heute? Ein Freilichtmuseum hinter dem Bambusvorhang.«
    »Was tust du eigentlich noch, außer zu grübeln und nach deinen Yaks zu sehen?«
    »Ich versuche herauszufinden, was mir in meinem Leben das einzig Lebenswerte erscheint. War es sinnvoll, dass ich als Zehnjähriger der Volksrepublik China den Krieg erklärt habe?
    Sinnvoll war es nicht, aber konsequent war es. Wir Buddhisten bringen unseren Feinden zuviel Nachsicht entgegen. Ich brauchte mich nur der Meinung der anderen anzuschließen. Nicht, dass der Großmut als solcher mir missfiele. Er ist eine Tugend, die ich bei anderen sehr bewundere. Wozu ich nicht bereit bin, ist, sie selbst zu üben, am wenigsten einem Chinesen gegenüber.«
    Ich spreizte hilflos die Hände.
    »Atan, in all diesen Jahren hat niemand…«
    Er packte mich an den Handgelenken. »Ich weiß, Tara. Du brauchst es nicht zu sagen. Ich spüre dich in mir seit damals, und es hat seither immer geschmerzt. Ich gebe zu, dass ich nicht für dich tauge. Ich bin für kein anderes Leben geschaffen als dieses. Ich muss dort sein, wo der Wind einem Pferd die Beine unter dem Leib wegschlägt – dort, wo ich die Sterne mit der Peitsche treffen kann.
    Wo man das frische Gras und den Yakmist riechen kann. Wo man immer ein Pferd besteigen kann – und der blaueisige Mond über den Himmel segelt. Ich muss da sein, wo keiner ist, nur die schwarze Nacht, in die ich falle, wie ein Meteor in den Weltenraum. Das ist mein Leben. Und deines?«
    »Es ist vielleicht nicht das Leben, das ich mir wünsche«, sagte ich leise.
    »Ich habe immer an dich gedacht. Jeden Tag.«
    Ich lächelte.
    »Ich auch. Jetzt kann ich dich auch besser verstehen.«
    Ich schmiegte mich immer enger an ihn. Es war kalt in der Jurte, und fast dunkel, nur die kleinen Butterlampen warfen safranhelles Licht. Er sagte dumpf:
    »Ich habe mich manchmal selbst nicht verstanden.«
    220
    Ich sah sein Gesicht, ein Stück Nacht in der Nacht, eigentlich kaum sichtbar. Als er sich über mich beugte, wurde sein Gesicht um einen Schatten heller als die Umgebung. Ich seufzte.
    »Du warst überraschend für mich, ich war nicht vorbereitet auf so eine Begegnung. Jetzt kommt es oft vor, dass ich von dir träume.«
    »Was bedeutet das, wenn du von der Vergangenheit träumst?«, fragte er und hielt mich mit beiden Armen umschlungen.
    »Vielleicht gibt sie mir Kraft?«
    Sein Gesicht, dicht an meinem, sah hagerer aus, als ich es in der Erinnerung hatte, aber seine Augen waren unverändert und auch sein Mund.
    »Ich konnte das alles nicht hinter mir lassen«, sagte ich.
    Es war mir, als sänken wir hinein in die tiefe Nacht. Ich vergaß, wo wir waren, alles Gegenwärtige und Vergangene verschwand, nur unsere Herzen sprachen zueinander. Mit beiden Armen hielt ich Atan umfangen, mein Gesicht lag an seinem Haar. Ich atmete tief seinen Geruch ein. Es war eine Umarmung, die mich weitertrug, forttrug aus dem Leben. Er umschloss mit beiden Händen meine Taille, hob mich hoch. Dann kauerte er sich mühelos mit mir nieder, legte mich auf die Schlafbank. Unter den Fellen schmiegte ich meine Hand in die seine. Atans Finger erwiderten den Druck; sein Haar, intensiv duftend wie seine Haut, fiel über mein Gesicht. Im Zwielicht der kleinen Butterlampe waren seine Augen dunkel wie eine andere Welt. Ich bewegte die Lippen an seiner Wange, fuhr mit der Zungenspitze über seine Lippen, teilte sie mit einem kleinen Biss.
    Wir entkleideten uns, während wir uns küssten; Vergangenheit, Gegenwart, all die Jahre, die wir getrennt voneinander erlebt hatten, vermischten sich. Ich wusste, dass ich noch gut aussah; dann und wann hatte es einen Mann gegeben, der es mir sagte. Mein Körper war wie früher, zäh und gelenkig, die Brüste straff, mit dunklen Spitzen. Hochgewachsen war ich nicht, und ich hatte auch nicht die hoch angesetzten Hüftknochen der jungen Generation, bei der Taille und Schenkel eine fast gerade Linie bilden. Aber mein Bauch war mädchenhaft flach, die Schenkel waren rund. Alles an mir war sanft, klein, eng. Mit zunehmendem Alter werden manche Frauen breiter, man kann nichts dagegen machen. Bei mir war es das Gegenteil: Ich würde schrumpfen, mich gleichsam in mich zurückziehen. Ich war froh, dass es so war, hörte ihn flüstern, wie einst: »Darf ich dein Haar lösen?«, und machte ein zustimmendes Zeichen. Langsam zog er eine Haarnadel nach der anderen aus meinem Haar. Ich

Weitere Kostenlose Bücher