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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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in mir zu bewahren.
    Erst lange Zeit später brach ich das Schweigen.
    »Du hast mich nicht gefragt, weshalb ich hierher gekommen bin.«
    »Mir scheint«, erwiderte er gelassen, »dass du so alle sieben oder acht Jahre ein paar Wochen mit mir zusammenleben möchtest.«
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    »Aus den Augen, aus dem Sinn, daran glaube ich nicht«, sagte ich und drückte fest mein Gesicht an seinen Rücken. »Aber wir müssen die Dinge sehen, wie sie sind.«
    »Wir haben uns getrennt«, sagte er. »Du bist weggefahren, ich bin fortgegangen.«
    »Ich habe immer gehofft, dass wir uns wiedersehen.«
    »Ich habe daran geglaubt«, sagte er.
    »Warst du unglücklich?«
    »Man kann die Zeit nicht umgehen, wie soll man es anders machen? Ich könnte dir sagen, dass ich täglich an dich gedacht habe.«
    »Aber schließlich hattest du das Ganze satt.«
    »Warum sollte man eine Frau vergessen?«
    Er umfasste meinen Arm, dann meine Hand. Unsere Finger verschränkten sich, fest und warm.
    »Lebst du alleine?«, fragte ich.
    »Ich habe keine Frau bei mir. Nicht immer dieselbe, meine ich.
    Ich kann also sagen, dass ich allein lebe. Und du?«
    »Manchmal«, erwiderte ich, »da hing es an einem Faden.«
    »Aber es wurde nichts draus.«
    »Nein.«
    »Anscheinend warst du nicht aufrichtig.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Nur so als Schlussfolgerung.«
    »Es war eben nicht die große Liebe«, sagte ich.
    »Und was nun?«, fragte er. »Suchst du sie immer noch?«
    Ich seufzte.
    »Ich habe nicht mehr den gleichen Ehrgeiz wie früher.«
    Wir lachten beide. Dann hörten wir auf zu lachen. Wir hatten die Ortschaft hinter uns gelassen. An der Stelle, wo sich das Tal zur schmalen Schlucht dehnte, schäumte ein Fluss. Eine rot beflaggte Holzbrücke war über die Stromschnellen gelegt. Sie war alt und morsch, nur für Fußgänger, Radfahrer oder Reiter gemacht. Doch etwas weiter versperrten Teermaschinen und Bagger die Straße. In kurzer Entfernung von der ersten Brücke wurde eine neue gebaut: breiter, mit wuchtigen Pfeilern, damit Lastwagen und Militärfahrzeuge den Fluss überqueren konnten. Inzwischen betrat das Pferd die alte Brücke ohne jeden Argwohn. Dicht unter den Planken brauste das Wasser, aber offenbar war ihm die Strecke vertraut. Bald erreichten wir das andere Ufer, ließen den Fluss hinter 212
    uns. Eine Zeitlang waren Rongpas Atemzüge, das Klackern der Hufe, das leise Klirren seines Halsputzes die einzigen Geräusche in der eingekehrten Stille. Und als der Hengst seinen Trab beschleunigte, breitete sich der Friede des weiten Himmels in mir aus. Ich fragte nicht: Wohin reiten wir? Das war unwichtig. Dieser Weg kannte kein Ziel, diese Nacht kein Ende. Ewig würde ich unter dem kalten Glitzern der Sterne dahinreiten, den Duft der Wacholderbüsche einatmen, dem Wind zuhören und den Klängen der Glöckchen, die Wärme des Tieres spüren, das mich auf seinem elastischen Rücken trug. Ewig würde eine sanfte, starke Hand da sein, die meine Hand hielt und mich geleitete auf die geheimen Pfade der Träume.
    Doch bald ging es aufwärts; durch das Gestrüpp führte ein schmaler Pfad. Ich erblickte den Horizont, rot gegen das aufsteigende Dunkel. Das Geröll bestand aus abgeschliffenen Steinen, vom Wind poliert. Und wie in alten Zeiten trugen die Steine Glückszeichnungen und Segenssprüche, eingeritzt oder mit Kalk gemalt; es waren Zeichen von großer Zauberkraft. Woher hätte ich, die Fremde, sie gekannt? Der Ort war so voller Kraft, dass ich meinte, die Steine sprechen zu hören. Ich ließ die Stimmen durch mich hindurchziehen, bis sie zu Worten wurden, die ich aufsagen konnte, und zu Gebeten, die mich trösteten.
    Da Rongpa den Weg gut kannte, ließ Atan die Zügel locker, sprach halblaut weiter.
    »Im Frühsommer bringen wir die Herden in das Hochtal von Dzong-Kha. Es ist die Zeit, wo die Yaks geschoren werden. Früher wechselten wir unser Lager, wie es uns gefiel. Heute wird jeder Weideplatz abgemessen, die Tiere werden hinter Zäunen aufgezogen. Die Weisheit der Volksrepublik sorgt für Ordnung und Disziplin. Wir sind ja keine säbelschwingenden Horden mehr, sondern tüchtige Produktionseinheiten. Die Yaks gehören uns, aber für jedes Tier verlangt die Regierung Steuern. Folglich verkaufen wir die Yaks, damit wir das Geld haben. In Kürze bleibt uns nur Gras mit einem Zaun rundherum, und kein Yak mehr. Logisch?«
    »Und ob«, seufzte ich.
    »Unseren Produktionsüberschuss verkaufen wir auf dem freien Markt. Dafür bekommen wir Rationierungskarten

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