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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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einer Welt jenseits der Vorschriften und Paragraphen.
    Einige Jurten duckten sich wie schlafende Vögel im Sternenlicht.
    Das feste, wasserdichte Tuch war aus Yakwolle gesponnen, ebenso wie die Seile, die sie hielten. Die herabhängenden Zeltbahnen waren am Boden mit Steinen beschwert.
    »Hast du die Jurte selbst aufgestellt?«, frage ich.
    »Aber sicher. Ist es die erste, die du siehst?«
    »Ja.«
    »Man braucht sie nicht mehr so viel wie früher. Komm!«
    Ich glitt hinter ihm unter das Zeltdach; roch den vertrauten Geruch der Wildnis, der mir sanft und eindringlich entgegenschlug.
    Butterlampen auf dem kleinen Tragaltar funkelten wie kleine Glühwürmchen. Durch den Kung, die breite Öffnung oberhalb des Firstbalkens, leuchtete der Nachthimmel; die Öffnung wurde nur bei starkem Regen oder Schneefall geschlossen. Man schlief auf niedrigen Holzbänken, die mit Teppichen, Fellen und Decken weich und bequem ausgelegt wurden. An den Pfählen hingen Lederbeutel verschiedener Größen, die alles enthielten, was die Hirten für die Sommerzeit benötigten. Selten hatte ich eine ähnliche Verzauberung empfunden wie jene, von der ich mitten in dieser schlichten Behausung umgeben war. Ich, eine erwachsene Frau, fühlte und bewegte mich wie ein Kind in einem Märchen. Warum war ich hier?
    Was suchte ich wirklich? Von einem Atemzug zum anderen fühlte ich nichts mehr von außen, von der Welt außerhalb dieser Welt. Dass Atan und ich uns gefunden hatten, nach so langer Zeit, war etwas, das mir völlig unwahrscheinlich schien. Ich sah Bilder in mir – das Buch der Vergangenheit mit seinen vielschichtigen Erinnerungen, seinen wirren Farben. Ich war mit Autobussen und Lastwagen gefahren; in Wirklichkeit war mir, als würde ich jetzt gerade aus einer Reise durch den Tunnel der Zeit erwachen. Das, was ich erlebte, war nicht Kunsangs, sondern meine Geschichte. Sie betraf einzig und allein Atan und mich. Möglicherweise konnte ich aus dieser Leichtigkeit, mit der ich die Dinge vereinfachte, Hoffnung schöpfen. Eines Tages hatten er und ich uns dafür entschieden, unsere eigenen Wege zu gehen, fernab vom Zugriff unserer Gefühle.
    Verblüfft und etwas hilflos entdeckten wir jetzt das Band, das sich in 218
    all diesen Jahren stillschweigend zwischen uns geknüpft hatte. Atans leicht spöttischer Ausdruck täuschte mich nicht: Er war genauso aufgewühlt wie ich. Schließlich sagte er:
    »Gefällt es dir hier?«
    »Es ist eine andere Welt.«
    Er kreuzte die Arme vor der Brust.
    »Ich habe sie mir ausgesucht«, sagte er dumpf. »Hier ist es noch manchmal so wie früher. Alles ist so natürlich, und dann glaubt man an das Reale.«
    »Und was ist Tibet heute für dich?«
    »Etwas sehr Seltsames, würde ich sagen: ein freier und fiktiver Ozean, der nur vor meinen Augen erscheint, wenn ich ihn in einer Muschel einfange.«
    »So etwas wie Frieden?«, murmelte ich.
    Er zeigte ein freudloses Grinsen.
    »Ich könnte dir einen Vortrag über die Technik des Vergessens halten.«
    Ich lächelte auch.
    »Hier oben scheint mir ein guter Platz dafür.«
    Er nickte.
    »Ich kann den Ort meiner Herkunft nicht so hassen, wie ich es mir wünsche; inzwischen ist der Eindruck einer Entfremdung eingetreten. Es gibt Tage, da denke ich, vielleicht komme ich nie mehr von diesem Berg herunter. Im übrigen glaube ich nicht, dass es typisch chinesische Verbrechen gibt. Aber es gibt eine chinesische Art zu bestrafen. Sie haben da eine Tradition der Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber. Eigentlich sind die Gesetze der Volksrepublik nur der vereinfachte Ausdruck ihres ziemlich hohen moralischen Standards.«
    »Glaubst du das wirklich?«
    »Ich weiß es nicht. Meine Wirklichkeit gibt es nicht mehr. Sie ist Bewegung, Reflex, Routine, Erinnerung. Und dann, so wie die Erde gelegentlich bebt, damit wir uns an ihre Macht erinnern, tritt plötzlich eine andere Realität auf, von der ich weiß, dass sie vorhanden, aber hassenswert ist. Tja, ich möchte gerne glauben, dass sie bloß Einbildung ist… «
    »Und was nun?«
    Er nahm mir meinen Rucksack aus der Hand.
    »Nichts. Ein Staat lebt, solange er funktioniert. Es tut mir Leid, aber Tibet lebt – und funktioniert. Diebe, Kulturschänder, 219
    Umweltzerstörer, Folterer und Mörder ziehen ihre Befugnis aus dieser Tatsache. China sitzt am längeren Hebel. Tibet ist ein Thema für die Religion, nicht für die Politik. Unsere Lage ist sehr unerfreulich: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir idealisiert werden. Die Welt

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