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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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dem verängstigten, störrischen Tier war ein hochmütiges Jagdpferd geworden.
    Ein unendliches Glücksgefühl stieg in mir auf. Wie der Schatten eines Traumes war mein Leben zerronnen; mir war, als begegnete ich zum zweiten Mal der dunklen Schwelle des Schoßes, die das Kind vergisst, sobald es atmet und das Licht erblickt. Ich dachte: 209
    »Dafür bin ich hierher gekommen!« Er ritt mir entgegen, so unglaublich vertraut und doch so unendlich fremd, ein Mensch aus einer für immer vergangenen Welt. Dicht vor mir brachte er sein Pferd zum Stehen, und ich hob das Gesicht zu ihm empor. Ich sagte:
    »Es war nicht leicht, dich wiederzufinden.«
    »Wie geht es dir?«, fragte er kehlig.
    »Sehr gut. Seit einigen Minuten sogar ausgezeichnet.«
    »Müde?«
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Wie schön du bist«, sagte er langsam. »Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung hatte.«
    Mir wurde schwindlig. Er hatte sich kaum verändert, das war das Erstaunliche an ihm. Die Haut war dunkel wie ehedem, die Falten im Gesicht, abwärts laufende Linien, waren tiefer, an den Augenwinkeln ebenso. Aber die Narbe am Haaransatz war nur noch ein heller Strich. Da hast du perfekte Arbeit geleistet, Tara, du kannst wahrhaftig stolz auf dich sein!
    Er sah mich unentwegt an.
    »Ich komme dich holen. Hast du Gepäck?«
    »Nur den Rucksack. Aber ob ich noch reiten kann?«
    Die Fältchen an den Augenwinkeln vertieften sich.
    »Nimm es als geistige Übung.«
    Inzwischen waren Dorje und Nijma hinzugekommen. Atan zog lachend einige Geldscheine aus der Ambak – eine Brusttasche, die aus den Falten im Blusengewand gebildet wurde – und hielt sie Dorje hin.
    »Du warst schneller als ich.«
    Dorje schüttelte lachend den Kopf und sah plötzlich sehr verlegen aus. Er habe doch nur Spaß gemacht, meinte er. Aber Atan sagte:
    »Die Wette gilt.«
    So ging es eine Weile hin und her und zuletzt nahm Dorje die Banknoten an. Atan ging es zweifellos darum, den jungen Mann für seine Unkosten zu entschädigen, denn Benzin war teuer und Mönche haben kein eigenes Geld, außer dem, was ihnen die Familie zusteckt.
    Selbst Almosen gehören dem Kloster.
    Ich verabschiedete mich von der kranken Mutter, die mich umarmte und segnete, und von den Geschwistern. Inzwischen erschienen auch die Nachbarn. Sie schwatzten wie ein Vogelschwarm. Auch Kinder waren da, viele Kinder, die sich bis 210
    mitten auf die Straße drängten. Sie haben ein Gefühl für Märchen und wollen, dass sie wahr werden. Und vielleicht fangen sie an, die Dinge neu zu erschaffen.
    Selbst ich, die den Träumen längst entwachsen war, hörte nicht auf die Stimme in meinem Innersten, jene Stimme, die mir zuflüsterte: »Tara, du bist verrückt!« Ja, verrückt war schon der richtige Ausdruck. Und von Verrückten erwartet man nicht, dass sie ein vernünftiges Benehmen an den Tag legen. Und so schnallte ich meinen Rucksack um, der nicht zu schwer war. Atan beugte sich leicht im Sattel vor, streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, ohne zu zögern, seine schmalen, kräftigen Finger umschlossen die meinen.
    Ich fühlte mich aus unbestimmter Tiefe emporgehoben, stützte mich auf den Steigbügel, schwang mich hinter Atan auf das Pferd und umklammerte fest seine Taille. Die Sättel der Nomaden waren so gemacht, dass man sich an die Lehne stützen konnte. Das kam besonders ungeübten Reitern, wie ich es war, zugute. Atan musste seinem Rappen irgendein verstecktes Signal gegeben haben, denn augenblicklich setzte sich das Tier in Bewegung.
    Wir ritten in leichtem Trab durch das Abendlicht, Rufe und Gelächter hinter uns verklangen. Bald befanden wir uns auf einer langen Straße, die scheinbar nirgendwohin führte, hügelauf und hügelab, zwischen unfertigen Wohnbauten, Lagerhäusern, Müllhalden, verrosteten Tankstellen. Lastwagen standen am Straßenrand; die Fahrer hockten um zischende Benzinkocher, tranken Tee oder verzehrten ihre Mahlzeit. Lange Zeit sprachen weder Atan noch ich. Mein Herz bebte vor Zärtlichkeit und Sehnsucht. Ich presste mich an ihn, rührte mich nicht, atmete nur seinen Geruch ein. Einen Geruch nach Moschusöl, Rohfell und Holunderrinde, einen Geruch, der an meine ganze Empfindungskraft rührte und wie durch Zauber meine tiefen, ursprünglichen Erinnerungen weckte. Ein Gefühl grenzenloser Loslösung überwältigte mich, mein Körper wurde warm und weich wie die sommerliche Erde; ich war von Wehmut und Glückseligkeit heimgesucht, roch diesen Geruch, hielt ihn fest, um ihn für alle Zeiten

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